Arthur
Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932) Erster Teil 1845 bis etwa 1902
Aus dem Lebenslauf + Geschichtsschreibung von morgen (Stefan Zweig) + Die Posener Zeit + Landrat in Wongrowitz und Kroeben + Wahlkampf in Blottwitz + Nationalitätenpolitik + Kulturkampf + Der kapitalistische Weg + Ernährungslage + Bodenfrage und Binnenwanderung + Schulwesen + Verkehrsverhältnisse + Der Erste Hauptsatz der Sozialpolitik + Abgeordneter und Kirche + Arbeitsethos, Disziplin und Ordnung
Die Ära Posadowsky: 12. August 1893 bis 24. Juni 1907 Caprivi meldet + In Berlin + Militärvorlagen, Militarismus, Reichstagswahlen 1893 + Staatssekretär des Reichsschatzamtes + Erwartungen + Wer ist der Neue? + Unter dem Einfluss von Adolph Wagner? + Der Neue Kurs + Nicht mit der reaktionären Masse! + Etat- und Anleihegesetz 1894/95 + Reichsfinanzreform 1895 + Gescheitert am Überfluss? + Umsturzvorlage + Posadowsky und das Finanzgenie des preußischen Staates + Staatssekretär Revirement im Sommer 1897 + Staatssekretär des Innern + Die Institution + Nächste Aufgaben + Reformen + Ist er ein Bremser? + Was wollte und konnte er entscheiden? + Ohne Verschuldung läuft nichts (18.3.1897) + Streit um die Machtentfaltung der Handelspolitik (7.12.1897) + Sieg der Tirpitz-Truppe am 28. März 1898 + .... das kleine, tapfere Volk der Buren + Extensive Interpretation der Weltpolitik: (a) Flottenrüstung, Exportinteressen und nationale Verteidigung, (b) Kräftegleichgewicht herstellen, (c) Rettung bringt die maritime Defensionsakte, (d) Mehrheitsmeinung und Untertanenverstand, (e) Manipulation mit der neutralen Bedeutung, (f) Rüstung als Kulturabgabe, (g) Eine Alternative, (h) Der Champion mit der gepanzerten Faust, (i) Unser Platz an der Sonne (Bülow), (j) Kanonenboot-Politik, (k) Der Kuli pocht an die Thore Europas, (l) Elend der Kolonial- und Weltpolitik, (m) Die schönen Zeiten sind vorbei, (n) Schuld sind die Europäer und Amerikaner (Bebel) + Kohlehandel-Syndikate + .... wie in einem eroberten Land + Die Amerikaner werden ihr Monopol ausdehnen + Der Sozialismus ist ihm nach wie vor völlig verschlossen + Tuberkulose-Bekämpfung - Mechanisierung des Weltbildes - Einbruch der Rassenhygiene + Graf Posadowsky hat die Schlacht um die Zuchthausvorlage verloren + Zwölftausendmark-Affäre + Posadowsky-Statistik + Verwandlungskünstler + Der kluge Hans und der blöde Michel + Caprivi: Wir sind auf Dauer nicht im Stande, das zu bezahlen, was wir brauchen + Der Handelspolitiker: (a) Zolltarifgesetz und Zolltarif 1902, (b) Handelstag 1901, (c) Abschluß der Verhandlungen, (d) Osterfahrt, (e) Bauernfasching 1902, (f) Segen für die Landarbeiter, (g) Proteste + Ich stehe zwischen zwei Welten
Wer ihn kannte, achtete und bewunderte ihn. "Seine Hauptstärke war", steht im Zeugnis der sozialdemokratischen Volksstimme aus Magdeburg vom 25. Juni 1907 als er das Staatsschiff verliess, "die fleißige Durchdringung der zahlreichen Einzelheiten seines Ressorts, verbunden mit einer gewissen Nachdenklichkeit, also einer in preußischen-deutschen Regierungskreisen höchst seltenen Eigenschaft." Georg Schiele aus Naumburg an der Saale, der 1913 Posadowsky`s Sozialpolitik als "römische Sozialpolitik" verdammt, die volksverderbend, krankmachend und den Unternehmer schwächt, testiert ihn 1904 im Grenzboten: "Dieser hat zeit seines Lebens mit dem hingebenden Eifer eines glühenden Patrioten und charaktervollen Staatsmanns Gerechtigkeit nach allen Seiten walten lassen." Der Autor von "Konservatismus als Weltanschauung" (1893), Reichstagsabgeordneter und Chefredakteur der großbürgerlichen "Deutschen Tageszeitung" Georg Oertel (1856-1916) führt 1906 Klage darüber, dass der Kanzler mit seinen Reden, auf der linken Seite des Parlaments Entrüstungsstürme auslöst, während "sein Stellvertreter [Graf von Posadowsky] nicht selten durch lebhaften Beifall der Sozialdemokratie gelohnt." (VS 13.2.1906) In der wilhelminischen Zeit prominent, beliebt bei den Liberalen und Teilen des Zentrums, oszillierende Ab- und Zuneigung bei den Konservativen. Die SPD ihm gewogen, doch stets in Sorge, dass er den Industriebündlern oder Agrariern verfällt. So baute sich um ihn eine ungewöhnliche Konfliktlage auf. "Posadowsky war ein Fremdkörper in der wilhelminischen Regierungswelt," skizzierte 1932 das Berliner Tageblatt seine politische Rolle, "in die ihn das Schicksal gestellt hatte. Sein Ernst und sein reines Wollen hat stets in allen politischen Lagern, und oft am meisten bei den Gegnern seiner konservativen Anschauungen, Anerkennung gefunden." Als Staatssekretär des Reichsschatzamtes und Reichsamtes des Innern gestaltete Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932) von 1893 bis 1907 in Deutschland die Sozial-, Finanz-, Zoll- und Handelspolitik entscheidend mit. In der Finanzpolitik spinnt er den Faden der indirekten Steuern weiter. Die Reichsfinanzreform von 1895 gelingt nicht. Den Schwerpunkt seiner Tätigkeit bildet die Sozialgesetzgebung. Er reift ".... zum anerkannten Minister für Sozialpolitik, der mit großer Sachkenntnis das groß gewordene Reichsamt des Inneren leitete" heran. (Tennstedt 2011, 5)
Ihn zeichnen unermüdlicher Fleiß, rastlose Schaffenskraft kombiniert mit Gründlichkeit, Pflichtbewusstsein, geistige Disziplin und eine den Bürger ansprechende Intellektualität aus. Seine Fähigkeit an alle Klassen und Schichten der Gesellschaft nebst den Eliten, nachdrücklich die Frage der Gerechtigkeit zu richten, das Bemühen, Politik auf Vertrauen, Recht und Wahrheit zu gründen, verdienen hohe Wertschätzung. Die "rastlose Innerlichkeit," beobachten 1906 seine Zeitgenossen, "nimmt ihn so in Anspruch, daß für die Äußerlichkeiten des Lebens nichts oder doch nur sehr wenig übrigbleibt." (DG 462) Er forderte, oder sollte man vielleicht besser sagen, er empfahl als Referenz an die politische Klugheit eine treffliche Behandlung der Arbeiter und Arbeiterinnen und das Recht auf Wohnung, drängte aber mit gleicher Energie darauf, dass die Leistungen der besitzenden Klassen, beispielsweise bei Übernahme von Lasten in der Sozialgesetzgebung, allgemein anerkannt werden. Die Unternehmer bezahlen, berichtet 1896 Doktor Ernst Kür vor dem Landesausschuss der badischen Gewerbevereine, ein Drittel der Krankenversicherung, die Hälfe der Invaliden- und Altersversorgung und die ganze Unfallversicherung. Wiewohl die Betriebsherrschaft der Kapitaleigentümer durch die auferlegten Sozialabgaben keineswegs angetastet (Wehler 1994, 136). Wenn der Freiheitswille des Bürgers allzu ungestüm wächst, pocht die Hegelsche Notwendigkeit darauf, den Meinungskorridor für den Bürger durch den Staat zu definieren, wozu sich die Massenerziehung andient und der ideologische Apparat des Staates verfügbar. Beides wusste der "Leiter der inneren Reichspolitik" (Simone Herzig 2006) im Sinne des vaterländischen Pflichtbewusstseins, von Gehorsamkeit und Selbstzucht zu nutzen. Die Förderung der Werktätigkeit des Volkes begriff er als eine vorrangige staatliche Aufgabe. Am 22. Oktober 1900 fiel der Vorhang in der Bueck-Woedtke-Posadowsky Affäre. Ihren Hauptdarsteller zerrissen die sozialdemokratischen Kritiker und deklarierten ihn als "12 000-Mark-Graf". Nach Verabschiedung des Zolltarifgesetzes am 25. Dezember 1902 erkannten sie ihn, den Titel "Vater des Brotwuchers" und der "staatlichen Massenausplünderung" zu. Anerkannte
Sozialpolitiker missbrauchen Posadowsky, rüffelt am 18. Februar
1904 die renommierte Zeitschrift Jugend aus München seine
Gegner, öfter als Prügelknaben.
Frischweg, ohne Verzug, fordern am 7. Februar 1905 die "Hamburger Nachrichten" den Rücktritt von Staatssekretär Graf von Posadowsky. Er hatte in seiner Rede am 1. Februar 1905 vor dem Reichstag den Streikenden einen "starken Sympathiebeweis" erwiesen und damit das Vertrauen aller bürgerlichen und staatserhaltenen Kreise erschüttert. Über den Sturz im Juni 1907 des in Kreisen der Großindustrie und im unsozialen Junkertum verhassten Staatssekretär des Inneren und Stellvertreter des Reichskanzlers, freut sich niemand mehr als seine politischen Gegner. Und auf die konnte er sich verlassen! Als Widerpart in der Sozialpolitik (1906/07) und auf dem Neuen Weg zum Wohnungsbau (1910), wo genügend Stolpersteine hin gerollt. Das von ihm erstrebte Reichswohnungsgesetz bleibt aus (Stand 1918). Er favorisierte als einen notwendigen Beitrag zur Behebung der Wohnungsnot die breite Nutzung des Erbbaurechts (1911/1919). Am 25. Juni 1907, vier Tage nach seinem Abschied als Staatssekretär des Innern bescheinigt ihn die Leipziger Volkzeitung: ".... immer empfand man, daß er den Dingen auf den Grund gehen suchte".
Die Vossische Zeitung (Berlin) würdigte, dass er "ein erfreuliches Verständnis für die Bedürfnisse der Zeit bewiesen". Dabei, wenn wundert`s?, von [einigen] Sozialdemokraten als Reaktionär angesehen, von den Scharfmachern" "als Gönner der "Genossen" verschrien." Sein christlicher Standpunkt verbietet ihn, erklärt er am 18. Januar 1912 auf einer Wählerversammlung im Großen Volkshaussaal zu Jena, "gegen Staatsbürger zu agitieren, bloß weil sie eine andere Religion oder andere Abstammung haben". Beherzt wendet er sich gegen Antisemitismus und Rassismus, überrundet moralisch Woodrow Wilson (1856-1924), der es 1919 auf der Pariser Friedenskonferenz nicht für nötig befand, zwei Paragraphen in den Entwurf der Völkerbundsatzung aufzunehmen, die garantieren sollten, dass keine Personen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht auf Grund der Rassen- und Staatsangehörigkeit diskriminiert werden können. Zuvor war der Antidiskriminierungs-Vorschlag des japanischen Delegierten Baron Makino Nobuaki (1861-1949) vom 13. Februar 1919 durch den 28. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika am 11. April 1919 in der letzten Sitzung der Völkerbundkommission beim Verlesen des kompletten Textes des Entwurfs der Völkerbundsatzung vollständig ignoriert worden. (Harro von Senger) Als Deutschland 1923 sich von der Ruhrkrise, Reichsexekution in Sachsen, Thüringen und dem Hamburger Aufstand politisch etwas stabilisierte, nahm er den Kampf gegen die existenzbedrohende Inflations- und Aufwertungspolitik der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), gegen alle Schwankenden, Opportunisten und Karrieristen unterschiedlicher politischer Provenienz auf, die das Prinzip der Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Eigentums verraten. Während der ehemalige Minister Hans Schlange-Schöningen (1886-1960), der 1932 den Schutz des Privateigentums als Spitzfindigkeit deklarierte und sich weigerte, weil es keinen Sinn mehr macht, ihm weiter nachzurennen, heute im Ehrenhain der Guten der Christlich Demokratischen Union (CDU) thront, etikettierte man den Streiter gegen die Prinzipien- und Grundsatzlosigkeit der Inflations- und Aufwertungspolitik der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) als "Gegner der Weimar Republik". Eine schlimme Verdrehung der Geschichte und Ungerechtigkeit! Denn er kapitulierte nicht vor dem Inflationsverbrechen und gründet (mit) die Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung (VRP). Ihr Mandat trägt ihn 1928 in den preußischen Landtag, wo er prinzipiell gegen die "Enteignung durch die Aufwertungsgesetzgebung" (1930) auftritt und um eine volkswirtschaftlich vernünftige Geldpolitik ringt. In Stinnes und Kombattanten erkannte er die Urheber der Inflation und deren "Grundursache für die Verelendung des Volkes" und forderte einen Untersuchungsausschuss, damit die Schuldigen endlich zur Rechenschaft gezogen werden können (Vorwärts 31.01.1932). Die Saalordner des Großkapitals taten alles, um derartige Aktivitäten zu zerstreuen. Posadowsky`s Konzept des demokratischen Verfassungsstaates sabotierten die deutschnationalen "Parteifreunde". Andere redeten 1930, so der preußische Justizminister, leichtsinnig der Durchbrechungstheorie das Wort. Gegenüber seiner staatspolitischen Fundamentalkritik an den Notverordnungen stellt man sich schwerhörig. Im Streit um das Präsidialkabinett von Heinrich Brüning (Ministerbesprechung 14. Juni 1930 / Reichspräsident Paul von Hindenburg) und der Aufhebung der parlamentarischen Legitimation der Regierung nach den Reichstagswahlen vom 14. September 1930, steht er auf der Seite der Verfassung. Die Politik warnt er vor Indolenz, Gleichgültigkeit, Selbstbetrug und Tabuisierung gesellschaftlicher Probleme. Mit dem Posadowsky-Codex leistet er einen konstruktiven Beitrag zur Abwehr und Überwindung von Verleumdung, Diffamierung und Ehrverletzung im öffentlichen Leben. In mehreren Etappen entsteht der Deutschland-Plan, eine Sammlung von Vorschlägen und Initiativen für eine demokratische, rechtsstaatliche und souveräne Republik.
Aus dem Lebenslauf zurück Die Naumburger kreuzten seinen täglichen Weg mit Ehrfurcht und freundlichem Respekt. "Zu meiner Zeit saß in der Kurie der schlesische Graf von Posadowsky-Wehner", rekonstruiert 2006 Hans-Gert Kirsche die Begegnung mit ihm, "seinerzeit Böttichers [auch Boetticher] Nachfolger im Reichsamt des Inneren und später Reichstagsabgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei. Er sah aus wie der leibhaftige Weihnachtsmann, denn er trug einen riesigen weißen Vollbart vor sich her, und war in der Stadt, wo man ihn häufig auf den Straßen sah, sehr beliebt. Als er [am 23. Oktober] 1932 starb, folgte fast ganz Naumburg seinem Sarge, es war wie ein Staatsbegräbnis." Dr. jur., Dr. theol. h. c., Dr. med. h.c., Staatsminister und Staatssekretär a. D. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner wurde am 3. Juni 1845 als Sohn des Oberlandesgerichtsrats Adolf Eduard Graf von Posadowsky-Wehner und seiner Ehefrau Amalie, Familienname von Plötz, zu Glogów, deutsch Glogau, geboren. In der niederschlesischen Kreisstadt Glogau besucht er das Evangelische Gymnasium, das er erfogreich mit dem Abitur abschliesst. Anschließend Studium der Rechte in Berlin, Heidelberg und Breslau. An der Universität Breslau Promotion zum "Dr. jur.". Von 1867 bis 1869 Auskulator und Referendar am Stadtgericht Breslau. Nach Ablegung des zweiten Staatsexamens, quittiert er den Justizdienst.
Die Familie erwirbt im Kreis Gnesen das Gut Welna. Hier sammelt der Jung-Akademiker praktische Erfahrungen und Kenntnisse bei der Führung eines landwirtschaftlichen Betriebes. 1871 wechselt Posadowsky als Regierungsreferendar und -assessor wieder in den preußischen Staatsdienst nach Posen. Im gleichen Jahr heiratet er Elise von Moeller, die Tochter eines Präsidenten eines Appellationsgerichts. Gemeinsam ziehen sie zwei Söhne und zwei Töchter groß. Ein Sohn verstirbt früh. Ab 1873
folgen die Tätigkeiten als Landrat in Wongrowitz (Bromberg) und Kröben
(Rawitsch),
später als Direktor der provinzial-ständischen Verwaltung beziehungsweise
Landhauptmann der Provinz Posen.
Geschichtsschreibung von morgen (Stefan Zweig) zurück Arthur Graf von Posadowsky-Wehner genoss in einflussreichen, humanistischen Politikerkreisen und im sozialen Bürgertum hohe Anerkennung. "Jedenfalls aber bleibt er in Erinnerung", beharrt 1932 die Frankfurter Zeitung darauf, "als einer der Aufrechten aus der wilhelminischen Zeit". Doch die Voraussage erfüllte sich leider nicht. Eine Suchanfrage im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig unter "Posadowsky-Wehner, Arthur" brachte zu Beginn meiner Literaturrecherche elf Titel zum Vorschein. Ein mageres Angebot für eine historische Persönlichkeit der deutschen Geschichte, was, wenn zunächst ziemlich richtungslos, auf Darstellungs- und Rezeptionsprobleme hindeutet. Nicht nur als Mitglied der Reichsleitung (1895-1907), auch als Domdechant des Domkapitels zu Naumburg, fällt er, was man unschwer an Hand des Bestandes der Sekundärquellen im Stadtarchiv Naumburg (Saale) feststellen kann, nach seinem Tod 1932 schnell in Vergessenheit.
Nach 1990 beginnt im Ostdeutschland die historische Neuvermessung der Geschichte. In Naumburg an der Saale begannen die Stadthistoriker mit grossen Eifer die Aufarbeitung von Themen, die bis dahin vernachlässigt worden waren. Zum Beispiel zur vor 1945 in der Stadt stationierten Wehrmacht oder zum Leben des Fotografen, Maler und Regisseur Walter Hege. Die städtische Bautätigkeit und Architekturentwicklung wurde dokumentiert und analysiert. Viel öffentliche Aufmerksamkeit zog am 15. Oktober 2007 die Einweihung des Nietzsche-Denkmals und die Eröffnung des Nietzsche Dokumentationszentrums im Oktober 2010 in der Wenzelsgasse 18 auf sich. Es entstanden eine Unzahl, nur noch schwer zu erfassender Aufsätze über historische Persönlichkeiten der Stadtgeschichte.
Dies widerspiegelt einen allgemeinen Trend. Bis 1987 (117) entstand, registriert John C. G. Röhl, keine einzige wissenschaftliche Biographie über Wilhelm II.. Es ist die Zeit der Geschichte des Kaiserreichs ohne Kaiser, des Wilhelmismus ohne Wilhelm (N. Sombart / Röhl) und der deutschen Sozial-, Handels- und Geldpolitik ohne die Persönlichkeit Graf von Posadowsky. Mittlerweile publizierte Joachim Bahlcke 2006 den Aufsatz "Sozialpolitik als Kulturaufgabe. Zu Leben und Wirken des schlesischen Politikers Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932)" und Simone Herzig 2006 "Die "Ära Posadowsky". Posadowskys Beitrag zur staatlichen Sozialpolitik im deutschen Kaiserreich".
1961 erschien im Verlag der Wissenschaften in Ost-Berlin (DDR) "Deutschland von 1897/98 bis 1917". Autor Fritz Klein (1924-2011), ein Mann mit Ostfront-Erfahrung, sucht auf 408 Seiten Antwort auf die Fragen: Was war das 1914 für ein Deutschland? Welche politischen Kräfte drängten zum Krieg? Waren die kapitalistischen Konkurrenzverhältnisse die Ursache? Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus dem Ersten Weltkrieg für die deutsche Politik in Europa und der Welt? In den Antworten entpuppt sich das deutsche Kaiserreich als repressiv, ausbeuterisch, militaristisch, expansiv und krisenanfällig. Ein wilhelminischer Politiker wie Graf von Posadowsky taucht da lediglich als Vollzugsorgan und Abziehbild des Systems. Er war doch nur, wie Fritz Klein mit Bezug auf die Handelsverträge feststellt, "ein Vertrauensmann der Grundbesitzer" (1961, 46). Im Sog so gekrönter Erkenntnisse, konnte im Osten Deutschlands kein großes öffentliches historisches Interesse an seiner Person aufkommen. Zwar ordnete sich 1961 die Untersuchung der Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands von Fritz Fischer im "Griff nach der Weltmacht" gut in den ostdeutschen Themenkanon zum Ersten Weltkrieg ein, doch ändert es an der gnoseologisch-politischen Perspektive zu Posadowsky nichts. Und doch war "Deutschland von 1897/98 bis 1917" ein interessantes und aufschlussreiches, vor allem aber ein notwendiges Buch, nachdem zumindest eine Strömung von Intellektuellen und Bürgern in Ost- und Westdeutschland, gleich anderen in vielen Ländern Europas und Kontinenten, dürstete. Sie suchten Antwort auf die Frage: Werden West- und Ostdeutschland ihrer Verantwortung für den Weltfrieden gerecht? Lernen sie aus den Niederlagen zweier Weltkriege? Stehen die Deutschen endlich zu ihrer früheren Kolonial- und Weltpolitik? Sind die rassischen Ressentiments der Deutschen - der Germanen - gegenüber den Juden und Slawen überwunden? Und das Erbfeind-Frankreich-Katarakt? Auf jeden Fall ist Deutschland nicht mehr, wie 1917 Hermann Onken (1869-1945) schrieb, das Land der Mitte mit "ungesichert verfließenden Landesgrenzen", denn es lebt jetzt fort in zwei militärischen Bündnissen, dem North Atlantic Treaty Organization (1949) beziehungsweise dem Warschauer Vertrag (1955)?
Waren dies nun jene Verhältnisse, wo Historiker unbefangen über die deutsche Flottenrüstung, die Haltung von Graf Posadowsky zu England oder die Rußlandpolitik von Leo Caprivi nachdenken konnte? Waren für eine humanistische Historiografie die internationalen und nationalen politischen Verhältnisse gegeben? Eine Frage, die sich Stefan Zweig analog für seine Zeit 1939 in der "Geschichtsschreibung von morgen" vorlegt. "Es ist ein Haß geworden", skizziert 1939 (2012, 228) er in einem Vortrag die allgemeine Lage der Geschichtsschreibung, "von System zu System, von Partei zu Partei, von Klasse zu Klasse, von Rasse zu Rasse, von Ideologie zu Ideologie." Auf diese Weise bereitet sie, was hinlänglich bekannt, die nach jedem E p o c h e n w e c h s e l stattfindende Umdeutung mit Lügen, zweckdienlichen Fälschungen und weißen Flecken vor. Sind wir dem für immer ausgeliefert? "Wir denken eben heute" nur vom Staate aus, verortet Stefan Zweig die Ursachen. Und so kommt dann heraus: "Daß unser Volk im Laufe der Geschichte immer im Recht war, und mit allem, was es tue, weiterhin im Recht bleiben werde: right or wrong, my country." "Die neue Geschichte, die wir fordern," argumentiert Stefan Zweig (236), "muß von der Höhe des kulturell Erreichten und im Hinblick auf den weiteren Anstieg geschrieben werden - im Gegensatz zur Geschichte von gestern, die bloß Nationalgeschichte und Kriegsgeschichte war." Allein die Tendenz zur Universalisierung der Geschichte bietet für sich keine Lösung, wenn sie nicht die Interessen der anderen Subjekte, einschließlich der mit geopolitischer Signatur, achtet, respektiert und mit ihnen aufrichtig verhandelt. Der neue e u r o p ä i s c h e G e i s t zieht im Prozeß der Universalisierung und Ausdifferenzierung ein, oder sein Humanismus schwindet, verkündet sich zum Besten und einzigen Weg der Weltgeschichte an, verfällt erneut in kulturelle Anmaßungen und stürzt sich mit der immer wiederkehrenden wirtschaftlichen Selbstüberschätzung in tiefe Gesellschaftskrisen.
Temporeich und engagiert formuliert, kündet 2006 der bereit erwähnte Aufsatz von Simone Herzig über Die Ära Posadowsky von dieser "neuen Geschichte" und zieht deshalb, ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit auf sich. Detailliert arbeitet die Autorin die bisherigen Standpunkte auf und beurteilt Posadowsky "im Hinblick auf die Sozialpolitik" (48). Ihre Ergebnisse fallen durch die Einordnung in ein etwas anderes Paradigma öfter anders aus, als die hier vorgestellten. Nach ihrer Auffassung möchte Staatssekretär Posadowsky um 1897, "den Kurs der antisozialistischen Repressivpolitik im Rahmen der Sammlungspolitik" (50) fortsetzen, um letztlich die "Sozialdemokraten auf lange Sicht zu vernichten" (57). Zwischen den Ambitionen der Sammlungsbewegung und der Sozialpolitik zu differenzieren, ist methodisch wichtig und zielführend. Fraglich hingegen bleibt die Absicht der "Vernichtung", da sie quer zu den Auffassungen von Posadowsky über die geschichtliche Rolle der Sozialdemokratie und den Aufgaben des (republikanischen) Staates im Allgemeinen liegen. Außerdem sind unbedingt noch weitere Positionen von ihm einzubeziehen, als da sind: das Recht auf Wohnung für alle Werktätigen, und speziell für Unterklasse, die Wertschätzung des Selbstbewusstseins der Arbeiter und Arbeiterinnen oder die fruchtbare Rolle des Klassenkampfes. Auch die Verknüpfung von politischen Zielen der Reichsleitung und Moral, wie sie Posadowsky am 15. Dezember 1905 (358) im Reichstag artikuliert, sind zu beachten: "Wir treiben Sozialpolitik nicht nur um politischer Ziele willen; nein, wir treiben Sozialpolitik, die verbündeten Regierungen treiben Sozialpolitik, und der Reichstag, nehme ich an, tut es mit ihnen, weil es sittliche Pflicht eines geordneten Staates ist, für die Armen und schwachen Volkskreise zu sorgen."
Die "autoritär-paternalistische Frontstellung gegenüber der Arbeiterschaft" (Wehler) fällt nicht mit dem politischen Konzept der Sozialpolitik von Graf Posadowsky zusammen. Die Differenz zwischen seinen sozialpolitischen Ambitionen und dem regierungsoffiziellen Paradima deutet sich vorsichtig in der Überzeugung von Bernhard von Bülow an, "dass nur durch ernste soziale Reformen die inneren Schwierigkeiten zu überwinden sind" (Fesser 1991, 75). Aber diese auf den Machterhalt konzentrierte innenpolitische Funktion der Sozialpolitik, gleichsam auch als eine Art Wunderwaffe, entspricht nicht den Zielen und Vorstellungen von Posadowsky. Offenbar ist im Diskurs über die wilhelminische Sozialpolitik noch nicht entschieden, welches Paradigma hier durchgreifend gilt.
Posadowsky´s Tätigkeit als Staatssekretär und Reichstagsabgeordneter von 1894 bis 1919 fällt in die Epoche, die Rudolf Hilferding (Das Finanzkapital - 1910), Rosa Luxemburg (Die Akkumulation des Kapitals - 1913) oder Wladimir Iljitsch Lenin (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus - 1917) als staatsmonopolistischen Kapitalismus beschreiben. In diesen Schriften spielt die Sozialpolitik keine zentrale Rolle, obwohl sie doch von tiefgreifender Wirkung auf das Staatsbewußtsein, Verhältnis von Kapital und Arbeit, soziale Differenzierungen der Klassengesellschaft und individuelle Lebenszufriedenheit ist. Einerseits steht sie im Dienst des Fortschritts oder wie Posadowsky formuliert:
Zugleich unterliegt sie damit den institutionellen Interessen des Staates, der Parteien, Klassenorganisationen, dem Reichs- und den Landtagen. Ihre Akteure organisieren sich in einem hochpolitischen Feld des Kampfes um soziale und ökonomische Interessen.
Walter Benjamin hinterfragt 1940 den Inhalt und Sinn des sozialen Fortschrittsbegriffs. Doch eben mit den Erfahrungen der Weimarer Republik und dem Faschismus und seinen Kriegen. So können seine Thesen "Über den Begriff der Geschichte" (XIII, Seite 700) nicht der frühen Zeit des Kampfes um die Sozialgesetzgebung übergestülpt werden. Doch sie sind ein ernster Hinweis, an den Übergängen der deutschen Geschichte 1918/19 und 1930/33 darauf zu achten, was politischer Fortschritt bedeutet? Wie stellt sich Arthur Graf von Posadowsky-Wehner dazu, was tut er?
Die Doppelnatur der Sozialpolitik, ein Produkt des Fortschritts der Produktivkraftentwicklung einerseits und Kampffeld der sozialen und politischen Interessen andererseits, verkompliziert die Debatte. Über ihr schwebt ein schweres Diktum, dass 1994 Hans-Ulrich Wehler (136) formulierte: "Von vornherein wurde diese Sozialpolitik nicht als Sozialreform im Sinne des Arbeitsschutzes und einer Humanisierung der industriellen Arbeit, geschweige denn als Umbau der Gesellschaftsordnung begriffen." Gut, eine Revolution ist dieser Politik nicht intendiert. Doch wie war das mit Arbeiterschutzgesetzgebung? Kann man den Beitrag von Hans von Berlepsch(1857-1933) 1897 auf dem Internationalen Kongreß für Arbeitergesetzgebung in Brüssel durch Verallgemeinerung - eventuell sogar mit Rückgriff auf die These vom Sozialimperialismus - eliminieren? Wenn das geklärt, wo bleibt dann die Würdigung der Bestrebungen zur Reform der Nationalökonomie von Adolph Wagner (1835-1917)? Und wie steht es um das Engagement von Graf Posadowsky 1907 als Staatssekretär für Sozialpolitik? War dies etwa inszeniert oder vorgetäuscht? Subsumiert man die Sozialpolitik unter das Label "Sozialimperialismus", schliesst man damit notwendige gesundheitspolitisch Sanierungs- und Präventionsmassnahmen zur Reproduktion der Arbeitskraft aus. So angewendet, verstellt dieser Begriff den Blick auf wesentliche Seiten der Sozialpolitik unter Graf von Posadowsky.
Hans-Ulrich Wehler fasst, worauf Sebastian Haffner 2001 aufmerksam macht, unter dem Stichwort "Sozialimperialismus" wirtschaftliche Depressionserscheinungen, den Kolonialrausch oder die auffallende Gleichzeitigkeit der Kolonialpolitik mit der ebenso neuartigen Versicherungspolitik zusammen. Dabei kann er sich, worauf er noch hinweist, auf Bismarck berufen, der dem deutschen Botschafter in London im Januar 1885 schreibt, dass die
Joachim Bahlke erkennt in der Sozialpolitik von Posadowsky den Versuch eines "Brückenschlag(s) zwischen der Arbeiterbewegung und dem Konservatismus". Das erfasst einen wesentlichen Aspekt seines politischen Schaffens. Doch es war noch mehr.
Hans-Ulrich Wehler charakterisiert 1994 (139) die Sozialpolitik im Kaiserreich als Ganzes durch eine "autoritär-paternalistische Frontstellung gegenüber der Arbeiterschaft" belastet. Darauf folgt die Frage: War die Sozialpolitik von Posadowsky Belastung, Befreiung oder Ausweg? Welche Antwort man darauf immer findet, sie war zur Entfaltung der Produktivkräfte und Verbesserung der Gesundheitslage der Bevölkerung n o t w e n d i g. Natürlich erschöpft sich die Antwort darin nicht. "Wir sind tatsächlich auf dem Gebiet der gesamten Politik, der inneren wie der äußeren sowie der Wirtschaftspolitik in einer "Sackgasse"", moniert 1896 der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht (RT 3.12.1896, 3686). Mag die Einschätzung übersteigert und aus sozialdemokratischen Wertvorstellungen abgeleitet sein, worauf es hier nicht ankommt. Interessant ist, worin er die Lösung sieht: "Die Mauer muss auf die eine oder andere Weise durchbrochen werden." "Es ist das möglich durch eine vernünftige gerechte Sozialreform, die den Frieden auf politischem und sozialem Gebiet anbahnt, die Gemüther beruhigt und eine friedliche Gestaltung der Dinge ermöglicht." Selbstredend steht das politische und moralische Engagement von Posadowsky unter der Ägide von "Ehre" und "Vaterlandsliebe", von "Nationalstolz" und der Bereitschaft, dem "Staat Opfer zu bringen". Und so muss dann sein Leben erzählt werden, eingebettet in die typischen sozialen Gefühlslagen, im Fluß des selbstverpflichtenden wilhelminischen Wertekanons und verbunden mit den typischen, staatlich anerzogenen und sanktionierten moralischen Empfindungen. Äußeres und Inneres, Erscheinungen des Sinns, sind mit dem Verstehen zu verknüpfen. Den Rückgang des Menschen in das Erlebnis bedarf den Aufschluss durch die Rekonstruktion der politischen und ökonomischen Lebensverhältnisse. Durch die Objektivation des Lebens, ist ein Einblick in das Wesen des Geschichtlichen möglich. (Siehe Wilhelm Dilthey 1983, 252, 284). Die Schwierigkeiten beginnen nicht erst mit der Interpretation. Schon die Spurensuche und ihre Vermessung bereiten Kummer. Den einen galt er als Staatssekretär und Vizekanzler des Deutschen Reiches als mitschuldig, also politisch belastet: Lassen wir ihn dann besser im Dunkel der Geschichte. Anderen, die ihn als Staatsdiener betrachten, war er nicht interessant genug, weil er zu eng mit Reichstag verbunden. Nun war aber die parlamentarische Arbeit sein politisches Lebenselixier und Hauptgeschäft.
Der renommierte Tübinger Historiker Johannes Haller (1865-1947), der während des Krieges neben Paul Rohrbach und Theodor Schiemann zu den einflussreichsten und populärsten Kriegszielpropagandisten zählte, sagt 1923 in "Die Aera Bülow" (146, 148) über den Reichstag, dass "von der Volksvertretung" "vollends nichts zu erhoffen", weil er
Oh Schrecken, fallen dann die heftigen politischen Feuergefechte zwischen Arthur Graf von Posadowsky-Wehner und August Bebel über die Gewerkschaften und Streiks, zur Flottenpolitik, Sozialgesetzgebung, Koalitionsrecht und Zollgesetzgebung (1901/02), Zuchthaus-Vorlage (1898/1901), in die Rubrik unwirksames räsonieren? Von den Debattenbeiträgen aus dem konservativen Lager, etwa zur Europa-Idee, durfte man nach Haller ebenso vollends nichts erhoffen. Und die schweren Attacken von Eugen Richter gegen den Militarismus reduzieren sich auf eine Kritik an sogenannten kleinen Fehler der Regierung. Vermutlich resultiert die Erkenntnisperspektive des Professors aus einer krassen Form von Voreingenommenheit gegenüber dem Parlamentarismus, was wiederum gravierende Fehleinschätzungen zum Einfluss der Parteien auf die Politik, ihre Wirkung auf Wilhelm II. und die Öffentlichkeit zur Folge hat. Es pflanzt sich in seiner politischen Haltung zum monarchischen Denken und politischen Geringschätzung der Weimarer Republik fort. Derartige Dogmen ebneten antiliberalen und demokratiefeindlichen Bewegungen den Weg. Diffundieren ihre Kautelen in die Geschichtspolitik, erschweren sie die historische Aufarbeitung der Tätigkeit von führenden Vertretern des Staates. Johannes Haller erklärt 1922 "zum Jahrestage der Verkündigung des deutschen Kaisertums aus Tübingen", "das das Deutsche Reich eine Kriegspolitik" "nicht getrieben haben kann" (Seite IX).
Wer sich Graf von Posadowsky politisch nähern will, das ist die Pointe der Haller-Geschichte, der muss die Rolle und Funktion des Reichstags als Parlament des Kaiserreichs gebührend beachten. Andernfalls verfehlt man unweigerlich den Treffpunkt mit ihm. Natürlich kürzten noch andere Formen und Denkmoden, wie Verbohrtheit, Dogmatismus und Vorurteile, oft gut in der Staatsräson verpackt, die Erinnerungshorizonte ungünstig ein. Es mutet paradox an, war aber in seinem Fall so: Die einen störte die konservative Regressivität, während andere die liberale Progressivität abstieß.
Nach 1918 dominierte im gesamten linken politischen Lager eine Haltung, die liberal-konservative Persönlichkeiten kurzerhand, oft locker, trivial und anspruchslos vorgetragen, als Reaktionäre verfemten. Vergessen war damit, was am 16. Februar 1906 Der Gewerkverein Nr. 7 über Posadowsky aufzeichnete: "Seine Reden lassen erkennen, dass das Reichsamt des Innern und sein Chef sozialpolitisch fortschrittlich denken." Unbeachtet blieb, dass er sich gegen den Darwinismus und den Einfall der Rassenideologie in die Sozialpolitik wendet. Verwundern tut das nicht, denn der Prozess der Implementierung dieser Konzepte und Dogmen lief ja gerade auf Hochtouren. Widersacher und Querköpfe stören da nur. Ebenso beachtlich war seine kritische, eben vernünftige Haltung zur Mechanisierung des Weltbildes, inhumanen Tendenzen der Gesellschaftsmoral und parasitären Lebensweisen. Er war ein "Gegner der antisemitischen Agitation" (1912). Das ging alles unter!, wenn man es einmal lax formulieren darf. Vertreter vom rechten Ende des politischen Spektrums ordneten ihn in die Krise des konservativen Denkens ein und erschwerten damit auf andere Weise die Rezeption seiner politischen Gedanken. Simone Herzig kam 2006 (47) nicht umhin festzustellen, dass Leopold von Wiese (1909), Martin Schmidt (1935) oder Karl Erich Born (1957) Arbeiten zum Leben und Werk von Posadowsky-Wehner vorliegen, denen es an wissenschaftlicher Objektivität mangelt.
Die fünf Perioden im politischen Leben von Posadowsky sind durch Auf- und Abstieg, große Erfolge und belastende Niederlagen, Systembrüche und Bifurkationspunkte gekennzeichnet.
1873 -1892
1893-1907
Mit hinein spielen Differenzen über die Finanzierung und politische Ausrichtung der Kolonialpolitik aus Sicht der deutschen Arbeitsmarktpolitik, Spannungen zwischen Bernhard von Bülow und Posadowsky. Im Kampf gegen die Sozialdemokratie leiten ihn deutlich andere geschichtsphilosophische Vorstellungen und Ziele als sein Chef, dem Reichskanzler. Vielleicht waren sie zunächst taktischer, später ganz sicher strategischer Natur. Sie resultieren (a) aus einer anderen historischen Perspektive auf die Zukunft der Sozialdemokratie. Und (b) aus einer anderen soziologisch, ökonomisch und moralischen Erkenntnisperspektive zur Bewegung der sozialen Klassen. Als ein "Minister großen Stils in den wirtschaftlichen und sozialen Fragen" entwickelt er sich vom "Herrn Bueck begönnerten" zum "Gegner des Zentralverbandes der Großindustriellen" (Schmollers Jahrbuch 1909, 1241 ff.). Mußte er vielleicht deshalb im Juni 1907 das Staatsschiff verlassen? H a t d a j e m a n d A n g s t vor einem R e i c h s k a n z l e r Arthur Graf von Posadowsky-Wehner?
1908-1918 Sozialpolitisch steht die Wohnungsfrage im Mittelpunkt. Alle Klassen und Schichten, lautet seine Maxime, müssen Interesse daran haben, dass die minderbemittelten Schichten unter Verhältnissen wohnen, die den Anforderungen der Gesundheitspflege und Sittlichkeit entsprechen. Das Recht auf Wohnung für die Unterschichten soll auch dann gelten, wenn der Lohnabhängige sein einziges Besitztum, die Arbeitskraft, verlieren. (Wohnungsfrage ein Kulturproblem 1920, 146) Sein politisches Grundmotiv ist und bleibt die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts. Für die Konservativen und Nationalliberalen, den Bund der Landwirte und das Zentrum erringt er 1912 im Wahlkreis Bielefeld das Reichstagsmandat. Der Große Krieg stellt ihn vor neue Aufgaben und in Verantwortung, die historische Prüfung der Nation zu überstehen.
1919-1925 Im Geist vereint mit dem reformfreundlichen, konservativen Bürgertum, begibt sich Posadowsky auf den Weg in die Republik. Am 15. Januar 1919 rechnet der DNVP-Kandidat in einer Wahlkampfrede mit der Welt-, Flotten- und Kolonialpolitik des Kaiserreichs ab. Vier Tage nach jenem Auftritt in der "Reichskrone" von Naumburg finden die Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung statt. Bei der Abstimmung über den Reichspräsidenten am 11. Februar 1919 im Nationaltheater zu Weimar unterliegt der Reichskronen-Referent dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert mit 49 gegen 277 Stimmen von SPD, Zentrumspartei und DDP. Er ist jetzt Fraktionssprecher der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Am 7. Oktober 1919 verspricht er keinen "18. Brumaire" herbeizuführen. Doch die Partei hält sich nicht daran. Einige ihrer Persönlichkeiten beteiligen sich im März 1920 am Kapp-Putsch. Er distanziert sich davon und verlässt bald darauf die DNVP. Derweil publiziert er Konzepte, Überlegungen und Vorschläge zum Verfassungsrecht und der Theorie der öffentlichen Meinung, zur Finanz- und Geldpolitik. Als Wohnungspolitiker knüpft er an das Engagement seit 1911 an. Etwas im Schatten dieser Aktivitäten steht die Bildungspolitik, wo er sich unauffälliger bewegt.
1926-1932
Mit seinem Tod im Jahr 1932 verliert Deutschland den herausragenden politischen Charakterkopf der wilhelminischen Periode des Kaiserreichs, den fähigsten Politiker der Reichsleitung und einen kämpferischen Realpolitiker der Weimarer Republik für die parlamentarische Demokratie und Verfassungstreue, gegen die Ungerechtigkeiten der Hyperinflation und Aufwertungsgesetzgebung.
Landrat und Landeshauptmann
Die Posener Zeit zurück Von 1873 bis 1893 ist Graf von Posadowsky zunächst als Landrat tätig, und, so melden es am 26. November 1889 die "Neueste(n) Mitteilungen", Landesdirektor der 28 992 Quadratkilometer großen Provinz Posen. Über deren geopolitische Zwecksetzung sagt Otto von Bismarck am 17. September 1894 - unmittelbar nach dem Eintreffen der Posener Huldigungsdeputation auf Schloß Varzin:
[Tätigkeit als Landrat zurück] Aufgebürstet vom Kulturkampf, ökonomisch unterentwickelt, belastet von unkontrollierter Einwanderung in den Arbeitsmarkt und den alltäglichen Schikanen preußischer Germanisierungspolitik durchziehen das Posener Land tiefe Friktionen. Unter diesen Verhältnissen Preußen als Landrat und Landeshauptmann zu dienen, ist nicht einfach. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner ist von 1873 bis 1877 als Landrat von W o n g r o w i t z (Wagrowiec) mit 54 787 Einwohnern im Regierungsbezirk Bromberg tätig. Anschliessend regiert er in gleicher Position von 1877 bis 1885 den Kreis K r o e b e n mit 48 850 Einwohnern (Stand 1905). Der Sitz des Landratsamtes befindet sich in Rawicz (deutsch: Rawitsch) mit 8 316 Einwohnern (Stand 1837). (Karte) Zum politische Ruf der Landräte referiert Ludwig Frank 1911 in "Die bürgerlichen Parteien des deutschen Reichstags" (21):
Trotz dem Blottwitz-Vorfall von 1874, der noch besprochen werden muss, kann diese Einschätzung nicht auf Posadowsky übertragen werden. Er bewältigt die wahrlich schwierigen innenpolitischen Verhältnisse aus Verantwortung für das Ganze, mit Einfühlungsvermögen, Augenmass, menschlichem Geschick und Verständnis. Sein soziales, politisches und fachliches Urteil folgt weder Oberflächlichkeiten noch der Verschlagwortung der Politik. "Ich habe 25 Jahre unter Polen gelebt und kenne sie ganz genau", lässt er 1930 den Preußischen Landtag an seinen Erfahrungen teilnehmen. "Ich kenne ihre guten Eigenschaften, aber auch ihre Schattenseiten ...."
sagte er von sich. Die Nachrichten über seine Tätigkeit als Landrat und Landeshauptmann, wie im Quellenachweis nachgewiesen, bieten keinen Grund, daran zu zweifeln. "Mit den Fragen der Reform der Selbstverwaltung beschäftige sich Posadowsky zunächst theoretisch als Landrat seines Kreises. Im Jahre 1878 nahm er an einer Konferenz von Verwaltungsbeamten im preußischen Innenministeriums teil, die über die Einführung der Kreisordnung in der Provinz Posen zu beraten hatte. Graf Posadowsky vertrat dabei die Auffassung, daß die Einführung einer der Verwaltungsorganisation der anderen alten preußischen Provinzen nachgebildeten Provinzialverfassung über Polen unbedingt geboten sei, wenn auch eine schematische Uebertragung in Anbetracht der besonderen Verhältnisse ein Fehler sein würde. Entgegen den anderen
Provinzen würde die Selbstverwaltung in Posen noch durch einzelne
ständische Kommissionen geführt. Diese Zersplitterung zu beheben,
was Posadowsky Ziel. Unermüdlich bemühte er sich um die Reform
der Selbstverwaltung und stand bei den Erörterungen um die Vereinfachung
an führender Stelle. Da sich eine gesetzliche Lösung nichtfinden
ließ, beschlossen die Provinzialstände, wenigstens dadurch
eine gewisse Vereinheitlichung zu erzielen, daß für alle ständischen
Kommissionen ein und dieselbe Persönlichkeit zum Vorsitzenden gewählt
wurde."
(H. von Arnim / v. Below)
Auf die Sozialgesetzgebung hat ein Landrat keinen Einfluß. Trotzdem kann er die materiell-ökonomischen Verhältnisse der Landarbeiter und des Gesindes, einschließlich ihrer Familien, in den Kreisen Wongrowitz und Kroeben in Grenzen mitgestalten und erlebt, wie schwer es ist, und von wieviel tausend Umständen es abhängt, sichere, soziale, menschliche Verhältnisse und etwas Wohlstand zu erarbeiten. Hier leben die Bauern und Bürger im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter im Haupt- und Nebenerwerb von der Landwirtschaft. Es darf nichts Außergewöhnliches passieren. Jede Missernte, jeder Ernteeinbruch, jede Havarie könnte für sie wirtschaftliche Not bedeuten. Der ländliche Arbeiter ist ein Pauper. Der Tagelohn beträgt für den Mann 40 Pf. für die Frau 30 Pf., dazu kommen an Naturalien freie, bestenfalls nothdürftige meistens, unzureichende, häufig elende - Wohnung und freier Torf, zwei Morgen Ackerland, und halber Morgen Gartenland, ein Stückchen Rübenland, einige Fuder Heu, um eine Kuh zu füttern ein bestimmter Prozentsatz vom Ertrag der Getreideernte, die sich für die Gesamtheit der Arbeiter eines Guts auf den zwanzigsten der auch siebzehnten Scheffel belaufen. .... Der Arbeitstag beginnt im Sommer um sechs Uhr Morgens und währt bis Sonnenuntergang, mit einer anderthalbstündigen Mittags- und je einer halbstündigen Frühstücks- und Vesperpause ...." (Stolpmünde 1890)
[Wahlkampf in Blottwitz zurück] Aus wirtschaftlicher Not bedingen Abhängigkeiten und folgend weitere Demütigungen. Dies illustriert ein Ereignis am 10. Januar 1874 in Blotnica Strzelecka, deutsch Blottwitz, bei der Durchführung der Reichstagswahlen. Aus diesem Anlass richten die Verantwortlichen ein Wahllokal ein. Gleich am Eingang befindet sich die Wohnung des herrschaftlichen Wirtschaftsbeamten Dworafek, der offenbar dazu berufen, die eintreffenden Wähler nicht nur in das dazu vorgesehene Zimmer zu gleiten, sondern sie vorher mit einem Schnaps zu traktieren (= Berichtssprache). "Der Wahlvorsteher Graf von Posadowsky-Wehner ging während des Wahlaktes hinaus und sagte zu Denen, welche im Hausflur und vor dem Hause standen:
Einer nach "strengeren Beurtheilung hinneigende Mehrheit" erkannten bei der Wahldurchführung in Blottwitz klar eine Beeinflussung der Bürger durch den Wahlvorstand. Es betraf, ist dem Bericht von Pfarrer Carl Gratza (1820-1876) zu entnehmen, "sowohl die Gewährung von Genussmitteln unmittelbar vor der Wahl und natürlich die Drohung mit Nachteilen unter Missbrauch dienstlicher Obliegenheiten nach der Wahl. Herzog von Ujest gewann das Reichstagsmandat, musste es aber nach Prüfung durch die Wahlprüfungskommission des Reichstages 1875 niederlegen, nachdem diese den Vorgang für ungültig erklärt hatte. Am 24. September 1875 wurde die Wahl wiederholt. Herzog von Ujest verlor gegen Carl Gratza (1820-1876) von der Deutschen Zentrumspartei. War Blottwitz eine Ausnahme? Vermutlich nicht. Aus S t o l p m ü n d e in Hinterpommern liegt ein ähnlicher Bericht vor. Jahre später gerät die Gegend durch den Untergang der "Wilhelm Gustloff" in den Blick der Öffentlichkeit, die hier am 30. Januar 1945 nach einem Torpedotreffer durch ein sowjetisches U-Boot auf der Höhe des Ortes mit über 9000 Passagiere in den eisigen Fluten der Ostsee versinkt. Heute, am 24. August 1890, meldet mit einer Sozialreportage Franz Mehring (1846-1919) sich "Aus Agrarierland". Das Dorf, polnisch Ustka, an der Küste, hat einen kleinen, immer wieder versandenden Hafen. Es lebt von den Fischern, etwas Küstenschifffahrt und der Landwirtschaft. Hier, wo man nicht um die Ecke biegen kann, um auf Puttkammer oder Zitzewitz zu stoßen, stimmte der Bürger so ab: "Bei den Wahlen zum Landtage hat er einfach den Gutsherren zum Wahlmann zu ernennen, bei den Wahlen zum Reichstage den Zettel, den ihn der Hofmeister in die Hand drückt, in die Urne zu werfen."
[Nationalitätenpolitik zurück] In Galizien, Russland und Westpreußen wächst in den letzten zwei drei Jahrzehnte das Nationalgefühl der Polen. "Die polnisch-nationale Bewegung wurde durch den Kulturkampf in einer für den preußischen Staatsgedanken gefährlichen Weise gestärkt." (H. von Arnim / v. Below 38)
Die polnischen Bürger und Bauern sind "viel störrischer geworden" als früher, heißt es am 4. September 1885 in einem Brief aus den Deutschen Reich über die Die polnische Bewegung in Deutschland. (Kurz: DpB 1885) Der "Marcinkowski-Verein", benannt nach Karol Marcinkowski (1800-1846), ermutigt die lernende Jugend und die Heranbildung eines intelligenten polnischen Mittelstandes. Immer mehr von ihnen studieren an den Universitäten. Die Zahl der polnischen Zeitungen erhöht sich von 1870 bis 1885 von zwei auf zehn. Der polnische Rechtsschutzverein verfolgt und bekämpft alle Beeinträchtigungen polnischer Staatsbürger auf religiösem, nationalem und politischem Gebiet. 1885/86 erlässt Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898) Maßnahmen zur Germanisierungspolitik (Sprache, Ansiedlung) nach dem Prinzip: Zwei Millionen Polen können für die übrigen 48 Millionen Deutschen "nicht maßgebend sein". Gemäß Ausweisungserlass des preußischen Innenministers Robert Viktor von Puttkamer (1828-1900) vom 26. Marz 1885 und 26. Juli 1885 werden bis 1887 35 000 Polen vertrieben. Von den Opfern waren etwa 9 000 Juden, die oftmals schon über Generationen in den preußischen Ostprovinzen wohnten und arbeiteten. Praktisch, berichtet am 13. Dezember 1897 der Jurist Sigismund von Dziembowski-Pomian (1858-1918) im Deutschen Reichstag, sah die preußische Politik so aus:
Reichskanzler Bernhard von Bülow verschärft 1902 die "Ostmarkenpolitik": Da sind wir und da bleiben wir, denn die preußischen Ostprovinzen sind mit deutschen Blut getränkt und da darf es nur die einzige Parole geben, und das ist die nationale. Gegen den "unheilvollen Einfluß" murrender und störischer Polen planen die Deutschen in den wichtigen Ostmarken, einen großen deutschnationalen Bund zum Schutz des bedrohten Deutschtums zu errichten. Die Beschwörung der "polnischen Gefahr" diente dazu, unter der Bevölkerung den Nationalismus zu schüren. "Die städtischen Mittelschichten der Provinz Posen, denen die wachsende Konkurrenz polnischer Gewerbetreibender zu schaffen machte, waren für die antipolnische Propaganda besonders ansprechbar." (Fesser 1991 75, 76) Der Bund zum Schutz des bedrohten Deutschtums will am Preußischen Geschäftssprachengesetz vom 28. August 1876, der die deutsche Sprache zur Amtssprache in der Justiz, im Behördenverkehr und Schulwesen erhebt, festhalten. Preußens "Germanisierungspolitik" läuft auf die Eindeutschung nichtdeutscher Minderheiten hinaus und macht die Polen zu Menschen zweiter Klasse.
Aber: "Der Deutsche, welcher ein bessere Lebensweise gewöhnt ist als der Pole, bedarf der Hebung der wirtschaftlichen Lebensverhältnisse." (DpB 1885) Die polnischen Beamten, Ärzte, Rechtsanwälte und Notare werden immer mehr, beklagt am 4. September 1885 der Brief aus dem Reich, weshalb die Deutschen streng gegen jede Polonisierungstendenzen vorgehen müssen und empfehlen zum Beispiel die Säuberung der Lehrerkollegien (DpB 1885). Das Gesetz betreffend der Einstellung und des Dienstverhältnisses der Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Volksschulen im Gebiete der Provinzen Posen und Westpreußen vom 15. Juli 1886 richtet sich gegen das Polentum.
Die Idee "große Inseln des Deutschtums im polnischen Meer" (Bülow) zu schaffen, wurde nicht aufgegeben. Kaum hatte Posadowsky-Wehner im Juni 1907 den Regierungsapparat verlassen, brachte Bülow am 26. November desselben Jahres im preußischen Abgeordnetenhaus den Entwurf eines Gesetzes ein, das es erlaubte, polnischen Grundbesitz zu enteignen. Am 26. Juli 1912 setzt der Preußische Landtag die polenfeindliche Ansiedlungspolitik fort und beschließt das Gesetz über Stärkung des Deutschtums in einigen Landesteilen. Gemäß dem Ansiedlungsgesetz von 1886 erhielt die Ansiedlungskommission durch das Besitzbefestigungsgesetz für die Ostprovinzen 100 Millionen Mark zum Erwerb von Grundbesitz in Westpreußen und Posen.
Posadowsky ist bereits fünf Jahre in Berlin tätig, als er am 28. März 1898 im Reichstag erneut direkt mit den Folgen der preußischen Nationalitätenpolitik konfrontiert wird. Vielleicht wollte man besser, er steht vor der Aufgabe die Folgen auszubügeln. Auf der Tagesordnung steht die
Die "Polen", seit den Wahlen vom 15. Juni 1893 mit 19 Abgeordneten im Reichstag vertreten, wollen dem Gesetz nicht zustimmen. Also ein Vorgang, der die Abstimmung zugunsten der "Tirpitztruppe" nicht gefährdet, aber eben doch einiger symbolischen Bedeutung ist. Unsere Haltung, erläutert ihm der Reichstagsabgeordnete für den Wahlkreis Posen Fürst Ferdinand von Radziwill (1834-1926), leitet sich aus dem "Äternat der Zurücksetzung" her, welches durch das Vorgehen der Königlich preußischen Regierung im Gesetz über die Ansiedlung in Posen und Westpreußen, welche Augenblicklich zur Beschlussfassung dem preußischen Landtag vorliegt, inauguriert werden soll. Staatssekretär Graf von Posadowsky entgegnet, dass bei Anerkennung der nationalen Bedeutung, der hier zur Abstimmung stehenden Vorlage, eine Unterstützung durch sie dennoch möglich wäre. Ferdinand Fürst Radziwill diente einst in der deutschen Marine, weshalb bei ihm über die beim preußischen Landtag vorliegende Stellungnahme ein "Gefühl der Bitterkeit und Entrüstung" aufkommt. "In ganz frivoler unbegründeter Weise vor" zerstört die Königlich preußische Regierung die Grundbedingungen der Fraktion. Posadowsky weist das zurück. Er bedrängt die "Polen", die Vorgänge der inneren Landesgesetzgebung eines Einzelstaates, streng von der Reichsgesetzgebung zu trennen. "Darauf möchte ich erwidern", reagiert nun Radziwill, "dass, wenn es wahr ist - und ich behaupte, dass es wahr ist, - dass ein Einzelstaat gesetzgeberisch in der Weise vorgeht, dass er ausgesprochenermaßen darauf ausgeht, einen Theil der Staatsbürger und der Reichsangehörigen, den polnischen, zuerst in eine wirtschafthlich gedrücktere, beschränktere - es ist das in den Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses mit eminenter Klarheit dargelegt worden, wirtschafthlich und nationalkulturell beschränkte Lage zu bringen, als den anderen, den deutschen, dann die Wirkung dieser Beschränkung gleichmäßig eintritt, wie für die Stellung dieses Volkstheils im Einzelstaat so in den Beziehungen der Reichsangelegenheiten. Es ist mir daher unerpfindlich, wie der Herr Staatssekretär des Inneren dazu gekommen ist, mich daran verhindern zu wollen, hier, wo gerade dieses Verhältniß auf die gegenwärtige Vorlage in wirtschafthlich wie politisch einschneidender Weise Bedeutung gewinnt, dieses Verhaelthnis im Zusammenhang mit der Vorlage zu behandeln. Ich konnte das nicht anders thun." Aber der Königlich preußischen Staatsregierung liegt es fern, antwortet der Staatssekretär des Innern, "ihre Untertanen polnischer Nationalität zu germanisieren." Freundlich konzediert ihn Fürst Radziwill (RT 28.03.1898, 1822/1823), dass er "gewiss seiner persönlichen wohlwollenden Meinung nach hier aufrichtig gesprochen hat". Aber die reale Politik, ist eine andere. Oder wieihn der Lübecker Volksbote zitiert: "Graf Posadowsky möge hundertmal bestreiten, daß die preußische Regierung die polnische Bevölkerung zu germanisieren suche. Die Thatsachen sprechen eine beredete Sprache." (LV 30.3.1898)
[Kulturkampf zurück] In beiden Landkreisen, die Posadowsky von 1873 bis 1885 in der Provinz Posen regierte, überwog die polnisch-sprachige Bevölkerung. Von den 54 787 Einwohnern im Landkreis Wongrowitz waren 78 Prozent Polen, 20 Prozent Deutsche und 2 Prozent Juden. Von den 48 850 Einwohnern (1905) im Landkreis Kröben waren 26 781 Bürger polnischsprachig.
Dem Deutschtum drohte der Totalverlust. Es war sichtbra in der Minderheit und bot keine wirkliche Stütze. "Dicht bei Posen liegen Dörfer", erinnert sich Posadowsky 1920, "deren Frauen bei festlichen Gelegenheiten zwar noch die alte Bamberger Tracht tragen, aber ihr Deutschtum in Sprache und Sitte vollkommen verloren haben." "Graf Posadowsky suchte die Kulturkampfgesetze in sachlicher, das religiöse Gefühl der katholischen Bevölkerung möglichst schonender Weise durchzuführen; gleichzeitig bemühte er sich, ohne Ansehen der Nationalität, die wirtschaftlichen Interessen der Kreisbevölkerung zu fördern, und fand hierfür dankbar Anerkennung. Besonders erhob er seine Stimme gegen kleinliche bureaukratische Maßregeln der Regierungsbehörden, welche die polnische Bevölkerung verbitterten, ohne irgendwelchen Erfolg für die Befestigung der deutschen Herrschaft zu erreichen, so zum Beispiel gegen das rücksichtslose Umtaufen geschichtlicher oder für einzelne Familien bedeutsamen alter Ortsnamen von Gutsbezirken, eine Maßregel, die umso wirkungsloser war, als die mit dem Gutsbezirk in räumlichen Zusammenhang liegenden Gemeinden ohne ihre Zustimmung einen anderen Namen nicht erhalten konnten und so derselbe Ort häufig zwei Namen führte." (H. von Arnim / v. Below 388)
[Der kapitalistische Weg zurück] Die "ökonomische Entwicklung macht ihren revolutionierenden Einfluß auf die Landbevölkerung geltend" (F. Mehring) und bringt den kapitalistischen Weg der Landwirtschaft zur Geltung. Der landwirtschaftliche Großbetrieb erweist sich gegenüber dem Kleinbetrieb als ökonomisch überlegen. Letzterer verschwindet nicht völlig, hat er doch Vorteile vorzuweisen: größerer Fleiß und Sorgfalt des Arbeiters sowie Bedürfnislosigkeit des kleinen Landwirts. Von den laut Betriebszählung 1895 existierenden 527 600 landwirtschaftlichen Betrieben sind noch immer 76 Prozent in den Händen der Kleinbauern. Durch die Gesetze von 1886 zur Beförderung deutscher Ansiedlungen in Posen und Westpreußen und die von 1890 und 1891 über die Bildung von Rentengütern mit Hilfe des Staatskredits und der Staatsmacht, ist wahrscheinlich schon jetzt eine ebenso große Fläche an den Bauernstand zurückgefallen, wie er im Laufe des Jahrhunderts im Wege des freien Güterverkehrs an den Großgrundbesitz verloren hat. "Diese künstliche Neuschaffung von Kleinbetrieben mußte dem Großgrundbesitz nicht etwa wider seinen Willen aufgedrängt werden. Nein, sie ist das Werk einer Regierung und eines Parlaments, denen nichts mehr am Herzen liegt, als das Wohl des Junkerthums." (Karl Kautsky: Die Agrarfrage, 1899) Georg Schiele aus Naumburg entwirft 1897 in Zur Polenfrage (9) das neue Bild vom Landwirt: "Er hat sich nicht um sozialpolitische Folgen zu kümmern, sondern er soll vor allem seinen Geldverpflichtungen nachkommen."
[Bodenfrage und Binnenwanderung zurück] Die Zeit als deutsche Wanderarbeiter Lebensansprüche in die slawische Bevölkerung trugen, wurde nach 1873 durch die Invasion billiger, oftmals russischer Arbeitskräfte, stark zurückgedrängt. Das ruinierte den Bestand freier Tagelöhner, senkte das Lohnniveau und verdrängte die einheimischen Arbeitskräfte. "Der polnische Bauer hat," beklagt man in Berlin (1885), "die Wohltaten der preußischen Herrschaft ziemlich vergessen."* Allein in Posen gibt es 1885 über einhundertfünfzig bäuerlicher Vereine. Übers Land verbreiten sich zahlreiche Vereine, die den nationalen Gedanken propagieren, das Polnische im hohen Maße zur Geltung bringen und die Wiederherstellung Polens erstreben. Bei den Landtags- und Reichstagswahlen ist ihr Einfluss zu spüren. Im scharfen Ton antworten die Deutschen: Die Polen wollen die Verfeindung Deutschlands mit anderen Staaten und einen Krieg gegen Preußen entfachen. (Die polnische Bewegung in Deutschland, 4. September 1885) Das Ansiedlungsgesetz vom 26. April 1886, nochmal 1898 und 1902 verschärft, ermöglicht, aufgekauften polnischen Großgrundbesitz an deutsche Siedler zu vergeben. Fast verschwunden war, registriert der 1892 von Max Weber gezeichnete "Schlussbericht über die Provinz Posen", die Bereitschaft zum Grunderwerb, weil die Besitzlosen zwar den Kaufpreis für den Boden, nicht aber das Baukapital abtragen konnten. Oftmals bestand die Neigung zum Sparen, was jedoch später regelmäßig zur Überschuldung führte und sich deshalb nicht fortsetzte. Offenbar kommen die Bestrebungen zur Parzellierung, also der Seßhaftmachung, nur schwer voran und werden durch die widersprüchliche soziale Lage ausgebremst. Die Bodenpreise steigen weiter. Als Folge des Kampfes zwischen der Ansiedlungskommission der preußischen Regierung und dem polnischen Grundbesitz erhöhten sich die Bodenpreise zwischen 1896 und 1904 von 560 Mark auf 1025 Mark pro Hektar Land. (Fesser 1991, 76) Trotz der preußischen Germanisierungspolitik, kauften von 1896 bis 1906 die Polen 60.603 Hektar mehr Land aus deutschen Händen, als deutsche aus polnischen Händen. (Bernhard / nach Marchlewski 1908, 317) Um zu verdienen, was sie ihnen die Heimat verweigerte, wanderten zehntausende Landarbeiter aus den ostelbischen Provinzen nach Westen aus. Man nannte sie Sachsengänger. Aufgrund der Binnenwanderung von Ost nach West sank in den preußischen Ostprovinzen die deutsche Bevölkerung. Die Landwirte im Osten sind g e z w u n g e n, hält Posadowsky am 13. Dezember 1896 im Reichstag August Bebel vor, grosse Massen von ausländischen Schnittern und Erntearbeitern heranzuziehen, um die Ernte von den Gütern zu bergen. Nach dem Krieg wanderten, weil ihre Ernährungsgrundlage nicht gesichert, 240 000 Menschen aus den Gebieten Ostpreußens ab. Um das Land lebensfähig zu erhalten, muss die Kreditnot behoben werden, sind Meliorationsmaßnahmen und die Aufforstung landwirtschaftlich nicht nutzbarer Flächen notwendig, insbesondere aber muss ein dichtes Netz von Siedlungen geschaffen werden. (Massenabwanderung 1927)
[Ernährungslage zurück] Wie unter einem Brennglas fokussieren sich in der Ernährungslage die Lebensbedingungen der Land- und Industriearbeiter der jeweiligen Region. Noch immer war sie im Posener Land gravierend schlechter als in den fruchtbaren Gegenden von Ost- und Westpreußen oder Pommern. Meist bestand die Kost der Landarbeiterfamilien aus Milch und Mehlsuppe, Erbsen und Sauerkraut, oft mit Kartoffeln. Fleisch und Brot gelangt weniger auf den Tisch als anderswo. Statt der acht bis zehn wöchentlichen Fleischmahlzeiten der Landarbeiter, erhält das Gesinde günstigenfalls vier. Bedingt durch hohe Branntweinpreise, nahm die Trunksucht ab. Uneheliche Geburten, Feld- und Forstdiebstahl sind eine alltägliche Erscheinung. Das Inzestverhältnis entschärft sich durch den starken Zustrom ausländischer Landarbeiter.
[Schulwesen zurück] Im Kulturkampf um die preußische Kirchen- und Schulpolitik entstanden zwischen Bürger und Staat immer wieder Spannungen, die oft in alltägliche Dinge hineinspielten und sie in unterschiedlicher Stärke überlagerten.
Besondere Aufmerksamkeit widmete Posadowsky "der Entwicklung des ländlichen Schulwesens, welches arg daniederlag." "Die Kinder der zerstreut wohnenden evangelischen Bevölkerung waren durch den Besuch polnisch-katholischer Schulen der Gefahr der Polonisierung in hohem Grade ausgesetzt. Die Regierung hielt mit Recht darauf, daß die Kinder der polnischen Einsassen in der Schule die deutsche Sprache erlernten; da aber die Schulen meist überfüllt waren und ein Lehrer häufig 80 Kinder, ja über 100 Kinder zu unterrichten hatte, so wurde der deutsche Unterricht nur zu einer äußeren Abrichtung, bei dem es zu einem Verständnis des Deutschen und zur Fähigkeit deutschen Gedankenausdrucks nicht kommen konnte. .... Durch die dargestellten Verhältnisse und die unkluge Art der Durchführung des deutschen Schulunterrichts, auch im Religionsunterricht, führte wohlbegründete Förderung der Regierung zu einer ablehnenden und verbitterten Haltung der polnischen Bevölkerung. Trotz dieser Schwierigkeiten begründete Posadowsky eine große Anzahl neuer Schulzirkel." (H. von Arnim / v. Below 388/389)
[Verkehrsverhältnisse zurück] "Um die Verkehrsverhältnisse zu fördern, arbeitet Posadowsky im Jahre 1879 anderweite, den Zeitverhältnissen Rechnung tragende, den Kunststraßenbau erleichternde allgemeine Bestimmungen aus, welche demnächst im Wesentlichen von dem Provinziallandtag angenommen wurden und seitdem die Grundlage für eine kräftige Entwicklung des Kunststraßenbaus in der Provinz bildeten. Ebenso war es ein schwerer Mangel, daß die Stadt und der Regierungsbezirk Posen nicht durch eine kürzeste Eisenbahnlinie mit der überwiegend deutschen Stadt Bromberg und dem östlichen Teil dieses Regierungsbezirkes verbunden waren. Graf Posadowsky trat deshalb als Abgeordneter für eine Entwicklung des Eisenbahnnetzes in der Provinz und namentlich für eine unmittelbare Verbindung zwischen den beiden Regierungshauptstädtchen Posen und Bromberg in, eine Forderung die demnächst durch den Bau entsprechender Eisenbahnlinien erfüllt wurde." (H. von Arnim / v. Below)
Erster Hauptsatz der Sozialpolitik zurück Arbeit war der erste Preis oder ursprünglich das Kaufgeld, womit alles andere bezahlt wurde. Nicht mit Gold oder Silber," erklärt Adam Smith 1776 in Der Wohlstand der Nationen, "sondern mit Arbeit wurde aller Reichtum dieser Welt letztlich erworben." Auf diese Einsicht zum Wertbildungsprozess durch Arbeit stützt sich Posadowsky`s Überzeugung, dass die Sozialgesetzgebung sich auf den Erhalt und die Pflege der industriellen und landwirtschaftlichen Arbeit, ihren Opfern, Anstrengungen, Mühen und Artefakten konzentrieren muss. Er stimmt damit nicht in das Lied des Ökonomismus ein, sondern es ist lediglich die Einsicht, dass die gegenwärtige Zivilisationsstufe der Menschheit sich auf Arbeit und Schöpfertum gründen. In etwas schwieriger Diktion, aber mit klarer Aussage, verweist Posadowsky auf den wichtigen historischen Schritt: "Wenn man aber unter Kultur versteht, dass alle Volkskreise sich eines Lebens erfreuen, welches den notwendigen Mindestanforderungen des menschlichen Daseins entspricht, so genügte der äußere Glanz gewisser Zeitabschnitte der Vergangenheit dem Sittlichen und wirtschaftlichen Begriff der Kultur keineswegs." (V&R 127)
Er erkannte, dass das Lebensniveau der Landarbeiter und des Gesindes, einschließlich ihrer Familien, mehr vom Kulturstand als direkt von der Fruchtbarkeit des Bodens abhängt. Daraus schöpfte er den Ersten Hauptsatz der Sozialpolitik:
Der Erste Hauptsatz der Sozialpolitik markiert eine historische Etappe und Höhepunkt in der Entwicklung der deutschen Sozialpolitik. Von den Erfahrungen der Posener Zeit geprägt, wird Arthur Graf von Posadowsky-Wehner in Berlin die Sozialpolitik als Kulturaufgabe proklamieren. Wenn es sich anbietet, spricht er vor dem Plenum des Reichstages über die "schlechten Verhältnisse des Ostens", zum Beispiel am 28. November 1893 aus Anlass der Beratung des Etat- und Anleihegesetzes:
Abgeordneter und Kirche zurück
Von 1882 bis 1885 vertritt Posadowsky für die Freikonservative Partei den Wahlkreis Lissa-Rawitsch-Fraustadt im Preußischen Abgeordnetenhaus. Wiederholt verteidigte er die berechtigten Ansprüche der evangelischen Kirche. "Wegen der Verschärfung des kirchlich-politischen Kampfes, welcher von der Mehrheit der Freikonservativen Partei begünstigt wurde, geriet in einen scharfen Gegensatz derselben. Nach Ablauf der Wahlfrist nahm er ein neues Mandat nicht an." (Ebd. 389/400) 1884 wurde er in die fünfte Provinzialsynode Posen und zum Mitglied der Generalsynode der evangelischen Landeskirche gewählt. "Er trat in die beiden kirchlichen Körperschaften einer besonderen Partei nicht bei, verteidigte aber den freieren Standpunkt, welcher mehr Wert legt auf die christliche Sittenlehre als auf Bekenntnis- und Glaubensformeln." (Ebenda 390) 1890 wurde Graf Posadowsky durch königliche Berufung zum Mitglied der sechsten ordentlichen Provinzialsynode, "in welcher er für die Förderung der Werke der Inneren Mission und für die Ausgleichung der sozialen Gegensätze auf der Grundlage der christlichen Sittenlehre lebhaft eintrat; von der genannten Synode wurde er wiederum als Mitglied der Generalsynode der evangelischen Landeskirche berufen." (Ebd. 390/391) Abgeordneter konnte er schlecht bleiben, da ihn die Arbeiten zur Reorganisation der Verwaltung voll in Anspruch nehmen. Von 1885 bis 1893 übernimmt er die Aufgabe des
der Provinz Posen.
Arbeitsethos, Disziplin und Ordnung zurück Das Ganze über das persönliche Interesse heben. Bescheidenheit im täglichen Leben üben. Vorangehen! Nicht aber ins Rampenlicht drängen. Dabei zusammen mit den Bürgern und Mitarbeitern anschauliche und greifbare Vorstellungen von der Zukunft entwickeln. Vor allem: Wie kann man besser werden? Das war Posadowskys-Art! Als Landrat lernte er, sich in konfliktreichen Räumen zu bewegen. Auch konnte er seine Kenntnisse in der administrativen Leitung und Organisation von Verwaltungsprozessen vervollkommnen. "Er arbeitete rastlos und lebte asketisch", beschreibt 1932 Marie von Bunsen seinen Arbeitsethos. Disziplin und Ordnung, darauf spielt im November 1932 das Posener Tageblatt an, führen bei ihm ein strenges Regime. Nicht immer war das seiner Beliebtheit zuträglich. "Selbst eine Arbeitskraft ersten Ranges, galt er als außerordentlich scharf hinsichtlich seiner Anforderungen an die ihm unterstehende Beamtenschaft. Wer von seinen Leuten nicht am Morgen pünktlich mit dem Glockenschlage an seinem Pulte saß, hatte nichts zu lachen, und wie ein Flugfeuer verbreitete sich bald nach seinem Dienstantritte in Posen von Mund zu Mund die Kunde, dass einer der Räte der Landeshauptmannschaft, der eines Morgens etwa verspätet zum Dienst gekommen war, in seinem Dienstzimmer auf dem Tische die Visitenkarte des neuen Chefs vorgefunden hat." "Nachdem in den übrigen Provinzen eine neu zeitgemäße Provinzialordnung eingeführt war, hegte die deutsche und polnische Bevölkerung den dringenden Wunsch, dass auch die Provinz Posen die provinzielle Selbstverwaltung durchgeführt würde." Bisher besorgten hier die Mitglieder des Oberpräsidiums und der Regierung nebenamtlich die Geschäfte, ohne dass die einzelnen Verwaltungsgebiete untereinander organisch verbunden waren, wodurch die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Provinz schweren Schaden erlitt. Endlich gelang es im Jahre 1885, nach den entschiedenen Drängen der Provinzstände, dass für die einzelnen Verwaltungszweige der provinziellen Selbstverwaltung wenigstens ein und dieselbe Persönlichkeit im Hauptberufe gewählt wurde. Die Wahl des provisorischen Leiters der Verwaltung Posens fiel auf Graf Posadowsky. (H. von Arnim / v. Below 390) 1890 erhielt er den Titel "Landeshauptmann" verliehen. "Im Jahre 1889 verfasste er eine Darstellung der bestehenden Organisation des Posener Provinzialverbandes, in welcher die vorhandenen schweren Mängel derselben klar dargelegt und die fachlichen und politischen Bedenken gegen Einführung einer zeitgemäßen Provinzialverordnung widerlegt wurden ...." (ebenda 390). "Der neue Landeshauptmann", erinnert sich die Posener Zeitung 1932, "hatte keine Zeit zum Besuch von Gesellschaften, und wenn er selbst wohl oder übel doch einmal einen Empfang geben musste, hörte man hinterher Gäste von sehr großer Schlichtheit der Bewirtung raunen." Damit der öffentliche Beifall bei seinem Abschied nicht zu grandios ausfällt, rührt die Posener Zeitung (JV 4.10.1893) nochmal seine Spar-Künste auf. "Die Beispiele beziehen sich durchweg auf das Gebiet der Schule, auf dem in einer Reihe von Fällen Gehaltherabsetzungen für die Lehrer vorgenommen wurden, so für die Lehrer an den Provinzial-Taubstummenanstalten, sowohl bezüglich der Gehaltssätze als auch des Wohnungsgeldzuschusses; selbst den älteren Taubstummenlehrer seien die von 5 zu 5 Jahren ihnen zustehenden Gehaltserhöhungen von 300 Mark um 100 bis 200 Mark gekürzt, teils der Bezug um einige Jahre hinausgeschoben worden."
Die Ära Posadowsky: 12. August 1893 bis 24. Juni 1907
Caprivi meldet zurück Im Hochsommer 1893 meldet Reichskanzler Leo von Caprivi dem Kaiser, dass der unentbehrliche Freund Bismarcks, Helmuth Freiherr von Maltzahn (1840-1923), als Staatssekretär des Reichsschatzamtes, zurücktreten will. Laut "Neueste[r] Mittheilung" (Berlin) vom 15. August 1893 hat er sein Entlassungsgesuch eingereicht, weil nach seiner Überzeugung auf die Erhöhung der Brausteuer zur Deckung der Kosten der Militärvorlage nicht verzichtet werden kann. Posadowsky verdankt, glaubt Paul Wittko (1925), seinen überraschenden Aufstieg einem Konflikt zwischen Helmuth Freiherr von Maltzahn (1840-1923), 1890 bis 1893 Staatssekretär des Reichsschatzamtes, und dem preußischen Finanzminister Johannes von Miquel (1829-1901). Daß nun ein verhältnismäßig unbekannter Landeshauptmann aus Posen "mit ganz kurzer politischer Laufbahn", "von dessen Verhältnis zu den Finanzfragen Niemand eine Kenntnis hat", an die Spitze des Reichsschatzamtes gestellt wurde, verwunderte einige sehr. "Ohne alle Veranlassung wird dem deutschen Volke auseinandergesetzt," äußert im August 1893 die Neue Freie Presse Wien die Vermutung, "Graf Posadowsky sei eigentlich nur deshalb für den wichtigen Posten ausersehen worden, weil der Kaiser dadurch verletzt wäre, daß die Zeitungen Herrn v. Schraut oder Herrn Aschenborn als Erben von Maltzahn`s genannt hätten." Wohl tauchen ebendiese Namen im Personalrekurs auf. Reichskanzler Leo von Caprivi nennt sie 1893 im Gespräch mit dem Kaiser am Rande einer Reichstagssitzung, worüber Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst in den "Denkwürdigkeiten" (1906) berichtet. Aber neben dem Unterstaatssekretär im Ministerium für Elsass Lothringen und Wirklichen Geheimen Rat Dr. Aschenborn, dem Wirklichen Geheimen Rat von Schraut (1845-1906), Unterstaatssekretär im Reichsschatzamt, nennt er noch Karl von Huene (1837-1900), 1890 bis 1893 Reichstagsabgeordneter für das Zentrum und Verwalter der Güter des Fürsten von Thurn und Taxis. - All drei scheiden in einer speziellen Art der Vorfeldsondierung aus. Da brachte der Kaiser Posadowsky ins Spiel. Ein besonderes persönliches Verhältnis, erzählen viele Jahre später die Danziger Neueste Nachrichten (1930), entfaltet sich zwischen ihnen nicht: "Für den Grafen, den der Kaiser unter Außerachtlassung anderer Vorschläge aus eigener Initiative zum Staatssekretär berief, hat er niemals besondere Sympathien gehabt." "Auch bei der "unerhört rücksichtslosen" Verabschiedung des Grafen Posadowsky nach vierzehnjähriger Tätigkeit als Chef eines Reichsamtes spielte der Umstand eine Rolle, daß - wie Berckheim berichtet - "der Graf Posadowsky dem Kaiser persönlich nie recht sympathisch war" und daß "ganz speziell" das "merkwürdige, laute und sich überall vordringende Wesen" der Gräfin Elise von Posadowsky "S.M. niemals sympathisch gewesen sei."" (Röhl 1987, 136)
Militärvorlagen. Militarismus. Reichstagswahlen 1893 zurück In der Bevölkerung ist eine ernste Abneigung gegen die steigenden Militärausgaben wahrnehmbar. "Es kann ja zweifellos nicht geleugnet werden," gibt 1895 der Nationalliberale Ernst Bassermann (1854-1917)1895 vor dem Reichstag zu bedenken",daß in weiten Kreisen unserer Bevölkerung eine erhebliche
Eugen Richter hebt am 30. Januar 1894 in seiner Reichstags-Rede auf die Frage der Steuergerechtigkeit ab. Unterschwellig ergeht der Vorwurf, dass die besserverdienenden Gruppen der Gesellschaft nicht genügend zum Steueraufkommen beitragen. "Die Steuern, über welche das Reich verfügt, treffen vorzugsweise die minderbemittelten Klassen, und die Hauptausgaben des Reiches sind solche für Militär und Marine." Die unteren Klassen tragen eh schon die Hauptlast. " . und umso ungerechter ist es gerade die indirekten Steuern, welche ebenfalls von diesen Klassen getragen werden, noch zu erhöhen." Der Staat zieht immer neue und höhere Steuern ein und verteilt sie auf die Schultern derjenigen, die am wenigstens im Stande sind sie zu tragen. Darunter leiden die Billig-Löhner, Arme und durch Krankheit geschwächte Personen und von Schicksalsschlägen getroffene Haushalte. Aber auch der Mittelstand wird stark belastet. Die indirekten Steuern stiegen im Reich laut Karl Bachem (1894) von 1872 bis 1893 von 240 auf 680 Millionen Mark. Wenn Johannes von Miquel zur staatlichen Geldeintreibung die Steuer für Lotterielose von 5 auf 8 Prozent erhöhen will, um für den "Moloch" fünf Millionen herauszuschlagen, untergräbt dies die öffentliche Sittlichkeit des Klassenstaates. Dass das Lotteriespiel generell verboten werden muss, dafür haben die Berufspolitiker obendrein kein Gespür und Sinn. (Vorwärts 1.9.1893) Der Streit der Parteien über die Militärvorlagen im Reichstag führte zu dessen Auflösung. Das erste Mal am 14. Januar 1887 als die Sozialdemokraten mit den Freisinnigen gegen die Heeresverstärkung stimmten, worauf am 21. Februar 1887 Neuwahlen folgen. "Dem Militarismus keinen Mann und keinen Groschen", lautet die Losung der Sozialdemokraten. Am 11. März 1887 nimmt der neu gewählte Reichstag die Heeresvorlage an. Ebenso führt die Heeresvorlage von 1892 zum Zusammenbruch des Reichstags. Reichskanzler Leo von Caprivi will, was auf harte Ablehnung bei den Nationalkonservativen und weiten Kreisen des Militärs stösst, die Wehrpflicht von drei auf zwei Jahren verringern. Wilhelm II. pocht auf die Annahme einer dreijährigen Dienstzeit, was bei allen Parteien auf erheblichen Widerstand stößt und den Kanzler in eine politisch aussichtslose Lage manövriert.Caprivi gelingt es nicht mit Unterstützung des Reichstages, die Erhöhung der Heeresstärke auf 500 000 Mann zu beschließen. Am 6. Mai 1893 stimmen von 373 Reichstagsabgeordneten 162 mit Ja, 210 mit Nein, womit der Antrag abgelehnt. Daraufhin erfolgt die Auflösung des Reichstages. Für den 15. Juni 1893 werden Neuwahlen anordnet.
Lediglich die Sozialdemokraten und antisemitischen Parteien, verraten die Wahlergebnisse, verzeichnen Stimmengewinne. Das Feld der Mittelparteien reißt auf. Die konservative Wählerbasis magert ab. Das Gerede von Königs- und Gottestum wirkte auf viele überholt und abgeschmackt. Nur knapp gewannen die Kartellparteien - Deutschkonservative, Nationalliberale und Freikonservative - die Reichstagswahlen.
Am 7. Juli 1893 liegt dem Reichstag - bei überfüllten Tribünen - zur Beratung der Gesetzesentwurf über die Erhöhung Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vor. Im Plenum sprechen Reichskanzler Leon von Caprivi, Friedrich Payer (1847-1931) von der Demokratischen Volkspartei und andere. Wilhelm Liebknecht (1826-1900) wirft den Regierenden vor, sie wollen die große Armee, weil sie Angst vor dem Ausland haben, "weil sie sich vor den Russen und Franzosen fürchten".
Am 1. Oktober 1893 tritt das Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres in der Fassung vom 3. August 1893 in Kraft. Es legt für die Zeit vom 1. Oktober 1893 bis 31. März 1899 die Zahl der Gemeinen, Gefreiten und Obergefreiten auf 479 229 Mann als Jahresdurchschnittsstärke fest. Das Volk bietet ein Bild der Unruhe, Unzufriedenheit und Zerfahrenheit. (NAZ 18.11.1893) Nicht bei allen Bürgern löste die waffenstarrende Welt Freudentaumel aus, weshalb die Politiker nur schwerlich bei der Wahrheit bleiben konnten, wenn es sich darum handelt, dem Militarismus einer mehr oder weniger feindlichen Wählerschaft für die Bewilligung neuer Militärforderungen geneigt zu machen. August Bebel kritisiert am 27. November 1893 im Reichstag, dass trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage die Forderungen von Armee und Marine ständig steigen. Weihnachten 1893 schreckt Minna Kautsky (1837-1912) die Bürger mit der Nachricht auf: "In allen Kulturstaaten, namentlich auch in unserem Deutschland bereiten sich gewaltige Umgestaltungen vor." "Niemals war die innere Lage kritischer. Die Frage des Militarismus drängt gebieterisch zur Entscheidung." Zum Neujahrstag 1894 begrüßt der Vorwärts (Berlin) in Europa
Im Ausland verfolgt man die deutsche Rüstung und Flottenvermehrung skeptisch. Das waren noch Zeiten als die Sozialdemokratie 1870/71 mit großen Lettern im "Volksstaat" für einen billigen Frieden ohne Annexionen eintrat und das Ausland sie dafür zur Friedenspartei kürte. Wenigstens kann man sich heute vorstellen, "wie unpopulär im Allgemeinen der Deutsche Name im Ausland ist". Die einen sehen in ihm "den geldgierigen armen Schlucker" und Emporkömmling, andere den "Repräsentanten des modernen Militarismus". (Bernstein 1896 b, 616) "Das ist das Charakteristische in der jetzigen Politik," sagt Eugen Richter am 14. Dezember 1899 (3361) im Reichstag, "dass der Blick fast hypnotisiert ist auf die Marine (Sehr richtig! links), dass man Macht, Kultur und Wohlstand einzig und allein für abhängig erblickt von der Vermehrung der Flotte, von der Steigerung des Marine-Etats, und dass dagegen alle übrigen Bedürfnisse weit zurücktreten. (Sehr richtig. links)"
Der Staat greift zunehmend tiefer in den Alltag derjenigen ein, die einer antimilitaristischen Einstellung verdächtig sind. Um zu ermitteln, wer von den Wehrpflichtigen der sozialdemokratischen Gesinnung anhängt, schafft seit Jahren die Militärverwaltung auf Grundlage von Vereinbarungen zusammen mit den Behörden des Reiches "ein systematisches Spitzel- und Spioniersystem im größten Maßstabe". Außerdem dürfen die sozialdemokratischen Arbeiter, moniert August Bebel am 9. März 1893 im Reichstag, nicht in Staats- und Militärbetrieben arbeiten. Am 1. Oktober 1893 tritt das neue Militärgesetz in Kraft. Der Nationalliberalismus ist der Vater des Gesetzes. Seinem "Sonntagskind", prophezeit man frohbewegt und zuversichtlich, bloggt am 4. Oktober 1893 das Jenaer Volksblatt, eine schöne Zukunft. Sie ist nicht zuletzt das Resultat einer intensiven ideologischen Arbeit der Nationalen Blätter, die im Volk die Hoffnung schürte und verbreitete, dass die Annahme dieser Militärvorlage, sie auf lange Zeit vor weiteren Belastungen der Landesverteidigung verschont. Natürlich kommt es anders. Am Horizont winkt schon die nächste Wehrvorlage. Am 3. Januar 1896, als die Krüger Depesche versandt, legt Konteradmiral Alfred von Tirpitz den Plan für zwei Hochseegeschwader vor, ein Machtinstrument um England zu zwingen, deutsche Weltmachtinteressen stärker zu berücksichtigen. (Mommsen 2005, 89)
In Berlin zurück 1893 nimmt Arthur Graf von Posadowsky-Wehner in der Hauptstadt des Deutschen Reiches Berlin seine Tätigkeit als Staatssekretär des Reichsschatzamtes auf. Laut Volkszählung von 1895 leben in der Reichshauptstadt auf 64,4 Quadratkilometer 1 677 304 Menschen (SJB 1900, 1). Die Industrialisierung läuft auf Hochtouren. An der Chausseestraße bei August Borsig verließ 1858 die 1.000 Lokomotive das Werk. Den Berliner Maschinenbau-Actien-Gesellschaft 1897, vormals L. Schwartzkopff, oder Eisenbahn-Luftdruckbremsen, später Knorr-Bremse GmbH, eilte ein guter Ruf voraus. Ab 1890 entsteht auf dem Nonnendamm Siemensstadt. Begonnen hatte es 1847 mit der Telegraphenbauanstalt Siemens & Halske. 1914 beschäftigte sie 75 000 Arbeiter. Max August Jordan in Treptow kaufte sich in die Anilinfabrikation mbH Rummelsburg ein, aus der 1897 AGFA hervorgeht. In Massen zog es qualifizierte und ungelernte Arbeiter in die Stadt. Laubenkolonien dämpfen die krasse Wohnungsnot. Ihre Arbeitskraft wird, zum Beispiel in den Druckereien der Verlage von Rudolf Mosse, Berliner Tageblatt, Ullstein, Scherl und S. Fischer, gebraucht. Das Leben der arbeitenden Klassen wird durch eine neuartige Arbeiterfreizeit mit Kino, Schrebergärten, Vergnügungen und Kneipen freundlicher, besser und anregender. Posadowsky bemüht sich, an ihren lebensweltlichen Erfahrungen und sozialen Antizipationen anzuknüpfen. Und was wird, aus seiner Liebe zur Landwirtschaft. Paßt sie in die Industriestadt? Ist er vielleicht ein Freund der Junker?
Staatssekretär des Reichsschatzamtes zurück Umweht vom Scheitern der Heeresvorlage, der Auflösung des Reichstages am 6. Mai 1893 und den Fehden der Agrarier gegen die Handelsverträge von Caprivi und dem Neuen Kurs wird Arthur Graf von Posadowsky-Wehner
ernannt. Das Reichsschatzamt koordiniert und organisiert das Etat-, Zoll- und Rechnungswesen und installierte sich in Berlin Wilhelmstraße 61 / Wilhelmplatz 1.
Vor Posadowsky leitete Helmut Freiherr von Maltzahn (1840-1923) fünf Jahre lang das Reichsschatzamt. Er wurde "aus dem Reichsdienst gedrängt", weil er, bemerkt August Bebel (RT 11. 12.1897), "offenbar" "zu arbeiterfreundlich war". Einige Erwartungen des Kaisers in Hinblick auf die Neugestaltung der Matrikularbeiträge und zuverlässige Finanzierung der Militärvorlagen erfüllte er nicht. Finanzpolitisch und parlamentarisch wog schwer, berichtet Eugen Richter am 30. Januar 1894 in der ersten Reichstagssitzung zur Beratung der Reichsfinanzreform, dass der Vorgänger im Reichsschatzamt daran scheiterte "50 Millionen zu beschaffen".
Erwartungen zurück Von Staatsekretär des Reichsschatzamtes erwartet man, dass die steigenden Ausgaben des Staates infolge Bevölkerungswachstum, Heeres- und Flottenrüstung sowie Sozialpolitik zuverlässig finanziert werden. Keine einfache Sache. Denn die "Finanzverwaltung des Reiches", räumt Wilhelm II. in der Thronrede am 16. November 1893 im Weißen Saale des Königlichen Schlosses zu Berlin ein, hat noch
gefunden. Ohne Schädigung
des Reiches und der Einzelstaaten, kann eine Auseinandersetzung darüber
nicht länger hinausgeschoben werden. Das Finanzwesen des Reiches
ist "dergestalt aufzubauen", ordiniert der Kaiser, daß
die bisherigen Schwankungen beseitigt und die Anforderungen in einem festen
Verhältnis zu den Überweisungen stehen. Zudem muß den
Einzelstaaten ein gesetzlich festgelegter Anteil an den Einnahmen des
Reiches garantiert werden. Mit anderen Worten, vom neuen Staatssekretär
des Schatzamtes erwartet die Reichsleitung, dass er die Soweit ein kleiner Einblick in die Problemlagen. Die wichtigste Aufgabe formulierte aber Wilhelm II. in der Thronrede:
Wer ist der Neue? zurück "An die Stelle des bisherigen Staatssekretärs im Reichsschatzamtes ist der Landeshauptmann von Posen, Graf von Posadowsky, auf diesen Posten berufen." So oder ganz ähnlich wie das "Teltower Kreis-Blatt" vom 15. August 1893, informiert die Presse die Öffentlicheit vom Machtwechsel im Reichsschatzamt mit dem Appendix: "Seine Verdienste und Fähigkeiten sind ohne Zweifel an massgebender Stelle besser bekannt, als im großen Publikum, wo man bisher wenig davon weiß." Auch andere Stimmern verschaffen sich öffentliches Gehör. Sei es nun, um den Oppositionsgeist zu befriedigen, oder Missklänge zur Amtsübergabe von Maltzahn an Posadowsky zu intonieren, macht sich die Kreuzzeitung, eigentlich Neue Preußische Zeitung, über den letzten Sonnabend im Reichsschatzamt her: "Der Finanz-Dilettant unterweist den in Finanzfragen durch unberührte Jungfräulichkeit sich auszeichnenden Landeshauptmann Graf Posadowsky in fünf Tagen so ausgiebig, daß er orientiert ist ...." Anders reagiert der von Leipzig aus operierende Grenzbote, die Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst. Er zieht die Linien der beruflichen Entwicklung richtig nach und würdigt seine Tätigkeit als Landrat, Abgeordneter und Landeshauptmann der Provinz Posen "als denkbar wünschenswerte Vorbereitung für seine jetzige Stellung [als Staatssekretär]." Ihm kam entgegen, das heisst, es entsprach seinen Interessen und geistig hohen Ansprüchen, dass er in einer "sehr bevorzugten Lage, von einem weitausschauenden Mittelpunkt, von einer sehr hohen Warte aus die Gesamtlage" übersehen konnte. (DG 1906, 464, 462)
An seiner Leistungsfähigkeit zweifelt niemand. Und an der Treue zur Krone? Ebenfalls kein Anlass zur Sorge. Der Stallgeruch passt. Die Familie entstammt dem schlesischen Uradel und der Vater war königlicher Oberlandesgerichtsrat. Sohn Arthur festigte das konservative Standes- und Selbstbewußtsein in Seiner Tätigkeit als Referendar, Gutsverwalter, Landrat und Abgeordneter der Freikonservativen Partei im Preußischen Abgeordnetenhaus. "Der neue Schatzsekretär Graf von Posadowsky-Wehner," äußert am 25. August 1893 der Vorwärts aus Berlin, "passt trefflich in die leitenden Kreise hinein. Zu den Verhandlungen der dritten ordentlichen Generalsynode aus dem November-Dezember 1891 bekannte sich Graf von Posadowsky als begeisterter Anhänger der konfessionellen Volksschule und warnte dringend vor einer Überschraubung der Ziele unserer Seminarien, weil sonst die Schulkinder viel mehr lernten, als ihnen gut sei. Da ist der echte Junkerstandpunkt, wie er oben genehm ist." Und wie ist sein Verhältnis zu Großkapital? "Ich kann mir wenigstens keine große wirthschaftliche Entwicklung denken ohne den Einfluß des Großkapitals," sagt er 1899 im Reichstag, "ohne wirkungsvolle Arbeit des Großkapitals in unserer ganzen wirtschaftlichen Bewegung, im Austausch unserer Güter." (Posa RT 13.12.1899, 3349) Seine ersten Reden im Reichstag fanden nicht die erhoffte Resonanz. Wo bleiben die Perlen der Redekunst, fragt am 17. August 1893 der "Vorwärts" . - Wo sollten die sich denn herauskristallisieren? Indes nicht etwa in der Debatte über Hundesteuer, Vagabunden oder Gendarmerie? Später liest man selten über Kritik an seiner Redekunst. Im Fall der Fälle erfuhr sie dadurch oft mehr öffentliche Aufmerksamkeit als gewöhnlich. Freilich kann diese nie völlig versiegen, denn was "schlecht" und "gut", ist eben oft von den Interessen und dem Vorwissen des Zuhörers abhängig. In der Tendenz, also ganz, ganz überwiegend sind Posadowskys Reden hochwertig, empirisch abgestützt, analytisch ausgerichtet, übersichtlich aufgebaut und in einer klaren, schöpferischen Sprache abgefaßt. Im Reichstag sind sie oft mit konkreten Folgerungen oder Antworten an die Abgeordneten versehen. Schlicht ausgedrückt. Es sind interessante Reden! Seine politische Sprache meidet Phrasen und Leersätze, scheut keine Urteile und entfaltet, eine beeindruckende analytische Kraft. Eine Ausnahme bilden die Veröffentlichungen vom Sommer 1914 bis Anfang 1918, die von Siegeswillen, Staatsräson und Vaterlandsliebe getränkt. Er ist nun halt mal der Auffassung, dass man mitten im Krieg über viele politischen Probleme "nicht eingehend sprechen kann", "weil die Gefahr vorliegt, das man damit" den "eigenen Vaterländischen Interessen schadet" (Posa RT 23.10.1918, 6202). "Seine trockene und ernste Art passte überhaupt nicht zu der glitzernden Persönlichkeit des vierten deutschen Kanzlers [Bernhard von Bülow]." (Berliner Tageblatt 1932) Über seinen Vorgesetzten, Bernhard von Bülow (1849-1929), seit Oktober 1897 Staatssekretär des Äußeren und ab 1900 Reichskanzler, erzählt man es ganz anders: "Schöne Reden" hielt er, daran mangelte es nicht, referiert am 14. September 1898 Eugen Richter über dessen Flotten-Rüstungs-Auftritte im Reichstag. "Aber schließlich fragt man sich, was hat er denn eigentlich gesagt?"
Er war er kein schlechter Redner, sagt Bülow-Biograph Gerd Fesser (1991, 47). Oftmals sprach er frei, was vorher meist eingeübt wurde. Auf Zwischenrufe reagierte er schlagfertig und zog die Lacher auf seine Seite. Der Reichstag und die Journalisten erlebten einen Weltmann, der virtuos am die Empfindungen und Interessen der Abgeordneten appellierte. Bei Amtsantritt von Graf von Posadowsky waren bereits bedeutende Grundlagen der Sozialgesetzgebung geschaffen. Der Reichstag verabschiedete am 15. Juni 1883 das Krankenversicherungsgesetz (Pflichtmitgliedschaft!) und am 6. Juli 1884 das Unfallversicherungsgesetz (1911 in das Dritte Buch der Reichsversicherungsordnung überführt). Zufrieden schaut er 1906 auf Gesetz über die Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juli 1889 zurück. Es war "der große Fortschritt der deutschen sozialen Gesetzgebung", daß "an die Stelle der Armenpflege ein eigenes Recht und eine gewisse Leistung des Arbeiters trat, eine Rente ." (Posa RT 6.2.1906, 1049) Zentrum und Konservative legten bereits in der letzten Sezession Anträge zur Änderung des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz vor, die aber nicht zur Beratung gelangten. Doktor Karl Heinrich von Boetticher (gestorben 1907 in Naumburg an der Saale), 1881 bis 1897 Staatssekretär des Reichsamtes des Inneren, Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums, sagt 1891/92 einen Gesetzesentwurf zur Unfallversicherung an, der aber ausbleibt. Dem Neuen eilt der Ruf zur Sparsamkeit voraus. "Wer glaubte die Finanzverwaltung kann anders als in Geld zu schwimmen, der hat die Rechnung ohne Posadowsky gemacht," schallt als Echo vom Führer der Freisinnigen Partei Eugen Richter herüber. (NAZ 20.11.1893) Doch die Zeiten verlangen mehr als nur Sparen. Denn es herrscht "Unzufriedenheit," klagt am 14. Februar 1893 der Landrat und Abgeordnete des Deutschen Reichstages für die Deutschkonservative Partei (DKP) Heinrich von Manteuffel (1833-1900), "die sich in jetzt überall in ländlichen Kreisen geltend macht." Doch lassen wir uns von den vielfältigen öffentlichen Kommentaren zur seiner Amtseinsetzung nicht irre machen. Auf der Grundlage einer soliden Ausbildung als Jurist lernte Graf von Posadowsky nicht nur verwalten, dekretieren, regieren, reden, publizieren und notwendige Arbeitsaufgaben zu formulieren, auf der konfliktreichen Mittelebene des Staates erwarb er wertvolle Erfahrungen und Fähigkeiten der Führung und Verwaltung. Er verfügt über das Talent zum systemischen Denken und alle Arbeitsaufgaben, methodisch zu organisieren, verläuft sich dabei nicht in akademische Finessen. "Nicht Theorien sind maßgebend," lautet sein Leitsatz, "sondern die Menschen, wie sie sind und die die Gesetze ausführen." (RT 5.10.1917, 3698) Und da war noch etwas, was bei der Lösung politischer Aufgaben hilfreich und ihn für Führungsaufgaben empfahl, seine passable Form des öffentlichen Auftretens, die ungekünstelte Bescheidenheit, Bereitschaft und Fähigkeit zum vernünftigen Gespräch mit Bürgern aller sozialen Klassen und Schichten.
Entstand mit der Ernennung von Posadowsky zum Reichsschatzsekretär, wie Eugen Richter (1899, 694) mutmasst, vielleicht ein neues politisches Tandem? War der Flottenphantast Miquel ein Vertreter der Industriellen? Und Posadowsky - der Mann für die Agrarier? Andeutungen dazu äußerten mehrere Politiker. Über Posadowsky äußert August Bebel am 15. Dezember 1897 (252) im Reichstag, "sein ganzes Herz ist ein heiß agrarisches Herz". Nahtlos schließt sich daran das Urteil von Fritz Klein (1961, 46): "Posadowsky hatte sich im Reichstag gegen die Handelsverträge gewandt und war ein Vertrauensmann der Grundbesitzer." "So kann überdies gesagt werden," urteilt die Berliner Zeitung 1897 im Sommer, "dass er beflissen war den Junkern noch weiter entgegenzukommen, als selbst die bisherige Regierung in ihrer Gesamtheit." Dies arrondiert über Boetticher`s Nachfolger am 15. Januar 1898 im Vorwärts (Berlin) zu: Der hält alle möglichen "Staatsinterventionen zugunsten seiner agrarischen Klassengenossen für nöthig". Und er selber dachte wie darüber? "Es läßt sich ganz leicht berechnen," wirft er am 14. März 1894 im Reichstag ein, "wie theuer ein Zentner Kartoffeln verwerthet wird, und welcher Fortschritt der Kultur eintreten würde, wenn der Kartoffelanbau nachlassen würde. (Zurufe der Sozialdemokraten: Der reine Agrarier!) Ja gewiß, in dieser Beziehung bin ich ein Agrarier. (Lebhafter Beifall rechts)"
Doch stimmt das alles so? Wahrscheinlich nicht. Er musste bisweilen speziell die Wünsche und Ansprüche der ostelbischen Junker zurückschneiden, deren Unersättlichkeit man anderen Ortes längst über war. Es war die Politik der Mittellinie, die mit Bülow abgestimmt war. Über Details berichtet 1902 Franz Mehring in "Posadowskys Osterfahrt". Aus konservativen Quellen kamen Einwände. Adolf zu Dohna-Schlodien (1846-1905) echauffiert sich über August Bebel, weil er einem Vorurteil aufsitzt, das absichtlich von der Presse lanciert und popularisiert wird. "Mit Verwunderung habe ich wahrgenommen," interveniert der Reichstags-abgeordnete der Deutschkonservativen Partei (DKP) am 10. Januar 1901 in der Vossischen Zeitung, "dass der Staatssekretär des Inneren Graf von Posadowsky von der Presse als Mann hingestellt wird, der die hochgespannten Erwartungen der Agrarier unterstützt. Das ist absolut falsch! Wer, wie ich, häufig Gelegenheit hat, mit dem Staatssekretär zu unterhandeln, also seine Ansichten kennen zu lernen, der weiß bestimmt, daß Graf Posadowsky gar nicht daran denkt, die Agrarier zu bevorzugen und ihre weitgehenden Forderungen zu unterstützen. Das Gegentheil ist der Fall! Graf Posadowsky hat stets beschwichtigend eingewirkt und zur Mäßigung gemahnt. Er ist von dem Wunsche beseelt, dass etwa zu Stande kommt. Das kann seiner Meinung nach nur erfolgen, wenn alle Interessenten sich möglichst bescheidene Wünsche stellen." Zweifellos war die Politik der Agrarier für die Sozialdemokraten im Reichstag von großem Interesse und Gewicht, weil sie das Ideal der Hochschutzzollpolitik vertraten und damit gesetzmäßig in Gegensatz zu den Interessen der Industrie einerseits und Lohnabhängigen an billigen Lebensmitteln andererseits geraten, und deshalb fragen:
Seine Einlassungen zu den Agrariern muteten manchmal befremdlich an. Wobei es sich dabei weniger um Äußerlichkeiten handelte. Es war etwas Anderes, Grundsätzlicheres, was das Bild vom junkerfreundlichen Staatssekretär zu befestigten drohte. Ihrer Auffassung nach vernachlässigte er die objektive Stellung der Junker im System der Produktion und ökonomischen Reproduktionsprozess. Wohingegen die Genossen ihr politisches Urteil auf die Analyse der sozioökonomischen Verhältnisse in der Landwirtschaft und den darauf basierenden Sozialstrukturen aufbauen. Eine konzentrierte Einschätzung hierzu legt im November 1894 der SPD-Parteitag in der Agrar-Resolution vor, wo es heißt:
Primär handelt es sich hier nicht um ideologische oder theoretische Nuancen zu Fragen der Gesellschaftspolitik. Ziel war vor allem die Gewinnung der werktätigen Schichten, sprich der Landarbeiter, für die Sozialdemokratie. Damit die Genossen, Genossinnen und Sympathisanten am 16. Juni 1898 zur Reichstagswahl das "richtige ankreuzen", lenkt am 3. Juni der Vorwärts aus Berlin die Aufmerksamkeit der Massen darauf:
Sie schimpfen die
Junker nimmersatte Agrarier, Geldsack-Politiker, Schnapsbrenner,
Brotverteuerer und Päppelkinder. "Notleidend,
wie sie sich vor dem Publikum hinstellen," Am 15. Dezember 1897 (245) erreicht die symbolische Herabsetzung der Junker durch die Sozialdemokraten einen Tiefpunkt. Als der Reichstag die russischen Handelsverträge nur mit kleiner Majorität angenommen, rollt ihnen August Bebel schnell noch diesen Brocken vor die Füße:
Um 1900, zur Zeit der Zollgesetzgebung und des Zolltarifs, nahmen die Spannungen zwischen Junker, Landarbeiter, Arbeiter und städtischer Bevölkerung zu. "Die junkerlichen Kornwucherer" wollten sechs Mark Zoll und mehr für den Doppelzenter Roggen haben. In einer Zeit, wo der "wirtschaftliche Niedergang von allen Seiten droht" und die Löhne wieder sinken, da "will die junkerliche Habgier auch die Preise der notwendigen Lebensmittel künstlich ins Ungemessene steigern .... gegen eine solche Politik werden die Arbeiter bis zum letzten Mann in den Kampf eintreten." (Vorwärts 18.10.1900) In der Reichstagsdebatte zur Zollgesetzgebung am 11. Dezember 1902 herrschte eine aufgepeitschte Stimmung. Ohne großes Federlesen stufte sie August Bebel (RT 11.12.1902) in die Sozialhilfe, Originalton:
" . ich habe hohe Respekt vor diesen Junkern", äußert sich Bebel 1907 (320) auf dem SPD-Parteitag in Essen. "Das sind Männer, die treten für ihre Überzeugung ein und erklären unter Umständen der Regierung den Krieg. .... Die Leute lasse ich mir gefallen, die haben Rückgrat und eine goldene Rücksichtslosigkeit, aber die Liberalen nicht." Also, was ist ein Junker? Cum grano salis definiert ihn Posadowsky am 12. Dezember 1901 während der Ersten Beratung des Zolltarifgesetzes im Lichte der Angriffe der Sozialdemokraten als einen Mann,
Unter dem Einfluss der Ideen von Adolph Wagner? zurück Welche Vorbilder und Lehrer hat Graf von Posadowsky? In den im Quellenverzeichnis nachgewiesenen Dokumenten finden sich dazu nur ganz wenig Hinweise. Ist man jedoch zufällig etwas mit dem Werk und Leben von Adolph Wagner (1835-1917) vertraut, entdeckt man bald, dass zwischen ihnen Gemeinsamkeiten bestehen. Beide wollen den "moralischen Indifferentismus" (Wagner 1871: 192, 191 194), der in großen Teilen der herrschenden Klassen anzutreffen, überwinden. Sie erkennen das gesellschaftliche Bedürfnis für eine zielgerichtete und geplante Sozialgesetzgebung und beharren auf einer sozialökonomisch angelegten Reformpolitik. Wagner und Posadowsky lehnen die freie Konkurrenz als generalisiertes Wirtschaftssystem ab. Beide pflegen einen politisch-moralisch konstruktiven Umgang mit den Kapitalismuskritikern Ferdinand Lasalle und Karl Marx. Unvergesslich die Rede von Adolph Wagner über Die soziale Frage vom 12. Oktober 1871 in der Garnisonkirche zu Berlin! "Meine Auffassung geht, kurz gesagt, darauf hinaus," erklärt er damals, "daß die Nationalökonomie wieder mehr den Charakter und die Bedeutung einer ethischen Wissenschaft erhalten müsse ." (1871, 191) Das mündet nicht in die Ablehnung wissenschaftlicher Methoden und Arbeitsweisen ein, sondern zielt auf den Umbau der Nationalökonomie, damit sie eine neue soziale Funktion und sozialpolitische Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen kann.
Als Nationalökonom, Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und Mitglied des Vereins für Socialpolitik appelliert er an die sittliche Pflicht der höheren Klassen, die soziale Entwicklung voranzutreiben. Dazu müssen "an die höheren, wohlhabenderen, gebildeteren Klassen der Gesellschaft" höhere, anspruchsvolle moralische Anforderungen im Sinne der sozialen Frage gestellt werden. Die materiellen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen, besonders der Unterschichten und Lohnabhängigen sollen durch Reformen verbessert werden. Es handelt "sich doch immer darum, den unteren Klassen mögliche Erleichterungen zu beschaffen, die ihnen wahrlich nicht vorenthalten werden dürfen." (194) Nicht allen behagt der Umbau der Nationalökonomie. Lujo Brentano (1844-1931) kann sozialpolitischen Überlegungen mit ethischem Pathos nicht viel abgewinnen und liebte es nicht, als Vertreter der ethischen Richtung der Nationalökonomie ausgestellt zu werden. Er möchte, wie Otto Tiefelstorf (vgl. 1973, 63ff.) darlegt, sozialpolitische Ziele unter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit vermessen und dabei den Produktivitätsaspekt berücksichtigen. Das ist im Sinne von Posadowsky, der darauf achtet, dass die Sozialgesetzgebung die Ökonomie der Gesellschaft nicht überfordert. In Sprache, Intention und Wirklichkeit mündet der Kampf gegen den "sittlichen Indifferentismus" und die "Pflicht der höheren Klassen" die Sozialgesetzgebung zu unterstützen, in die Sozialpolitik als Kulturaufgabe von Posadowsky ein. Die Vorhaben und sozialpolitischen Ambitionen von Adolph Wagner ähneln stark jenen sozialpolitischen Denk- und Arbeitsweisen, die Posadowsky zwanzig Jahre später als Staatssekretär des Reichsschatzamtes und Inneren anstrebt und praktiziert. Der Nationalökonom gilt in der aufmüpfigen Sozialdemokratie als Kathedersozialist, die in ihm, ähnlich auch Gustav Schmoller oder Lujo Brentano, einen erbitterten Feind des Marxismus und Vertreter des bürgerlichen Reformismus erkennt. Dabei übersieht sie öfter mal, dass Adolph Wagner dazu a u f r i e f, Karl Marx und Ferdinand Lassalle nicht zu igorieren oder zu übergehen, da sie es meisterhaft verstanden, gewisse Tendenzen von Übelständen im heutigen Wirtschaftssystem nachzuweisen. Er pocht am 12. Oktober 1871 (192, 195) darauf:
Darüber hinwegzugehen, wäre unklug; also nicht ausweichen, sachlich und gut belesen darauf eingehen, die Probleme nicht verdrängen. Diese Form des Umgangs mit dem ideologischen Gegner ähnelt stark der von Graf Posadowsky. Wahr ist, die Kathedersozialisten vertreten beispielsweise zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel oder zur sozialen Revolution grundsätzlich andere Auffassungen als die Sozialdemokraten. Dennoch übernahmen sie in der wilhelminischen Epoche als Aufklärer und Mediatoren im Komplex der Sozial- und Reformpolitik in der öffentlichen Meinungsbildung eine wichtige Rolle. Sie treten "gegen eine Einschränkung des Koalitionsrechts und für die rechtliche Stärkung der Gewerkschaften, für den Ausbau korporativer Schlichtungs- und Einigungsverfahren und für den Abschluß kollektiver Arbeitsverträge" ein. (Quellensammlung, 2011, Einleitung XVIII bis XIX)
Der Neue Kurs zurück Auf die Abdankung von Bismarck folgt der Neue Kurs. Es wäre besser, heisst es jetzt aus der Reichsleitung und Vertreter von Parteien, wenn sich der monarchische Staat aus den unmittelbaren sozialen Konflikten in der Gesellschaft etwas zurückzieht und mehr als neutrale Instanz über ihnen agiert. Die Bedingungen hierfür, waren nicht sonderlich gut, sah doch Wilhelm II. die Politik der sozialen Versöhnung als gescheitert an. "Die einzige Säule, auf der unser Reich besteht, war das Heer. So auch heute." (Nach Mommsen 2005, 68).
"Das Hauptsächlichste Merkmal der Bismarckschen Herrschaft war die völlige Erstarrung." Die Reichspolitik hatte sich "dem geringsten modernen Gedanken grundsätzlich und hartnäckig verschlossen". Diese Zeit ist vorbei, so bestimmt Georg von Vollmar am 1. Juni 1891 im "Eldorado" von München seine Position. Daran schliesst sich die Frage, ob wir einen Neuen Kurs haben oder nicht. Trotz allen Zauderns, Schwankens und Irritationen in der Berliner Politik, öffnen sich die Sozialdemokraten für den Neuen Kurs, denn es sind "tatsächlich" "nicht unwesentliche Änderung in der Regierungspolitik eingetreten". Vor allem ist die Ausnahmegesetzgebung gefallen und neue Männer sind an die Spitze getreten. "Dem guten Willen die offene Hand, dem Schlechten die Faust!" - Die Rede vom guten Willen der Regierung die offene Hand hinstrecken, betrachtet 1960 (40) der Historiker Fritz Klein als "den Anfang des Weges, an dessen Ende es im August 1914 die vom Revisionismus beherrschte Führung der Partei es unternehmen konnte, die deutsche Sozialdemokratie in den Krieg zu führen". Der Neue Kurs bedeutet eine andere Schwerpunktsetzung in der Sozialgesetzgebung. Arbeiterschutz und das Arbeitsrecht treten stärker in den Vordergrund. Der alte Kanzler wollte keine Selbstbeteiligung und Selbstverwaltung der Krankenkassen, weshalb diese Organisationsform bis zu seinem Rücktritt am 20. März 1890 strittig blieb. Die Nichtbeteiligung der Arbeiter an der Verwaltung war überlebt, wozu die Novelle zum Krankenversicherungsgesetz vom 10. April 1892 neue Vorschläge in petto hält. Fachkreise der Sozialpolitik diskutieren über die Ausdehnung, Organisation, Vereinfachung und Zusammenführung der Arbeitsversicherungsgesetze. Sie kommt nicht zum Abschluß. Jahre später, am 30. April 1903, fordert der Reichstag den Bundesrat auf, ein einheitliches Arbeiterversicherungsgesetz auszuarbeiten. Graf Posadowsky verfügt am 19. Juni 1905 die Übertragung der Aufgabe an den Geheimen Regierungsrat Walter Spielhagen (1857-1930), der seit 1903 im Reichsamt des Inneren tätig ist. Im öffentichen Bewusstsein weniger präsent als die Korrekturen und Neugewichtung der Sozialpolitik, aber dennoch für die deutsche Politik viel folgenreicher, war
Einst 1887 von Bismarck abgeschlossen, akzeptierte Deutschland darin die Rechte Russlands auf den Balkan und tolerierte praktisch seine Kontrolle über der Meerengen in Mittelmeer. Wolhwollend verpflichten sich beide Parteien zur Neutralität im Kriegsfall, falls Russland von Österreich-Ungarn oder Deutschland von Frankreich angegriffen würde. Schließlich waren die Rückwirkungen und veränderten Bedingungen der Russlandpolitik auf den Handel zwischen den Staaten zu bewältigen. Der Neue Kurs heisst Militarismus, der nach weiteren Finanzierungsquellen sucht und neue finanzielle Belastungen für die Bevölkerung verheisst. Kein Redner kann bei der Wahrheit bleiben kann, wenn es darum geht, dem Militarismus eine mehr oder weniger feindliche Wählerschaft für die Bewilligung neuer Militärforderungen geneigt zu machen. Der Neue Kurs ist eine Camouflage. Es ist der alte. "Schwindel bleibt Trumpf" (Vorwärts 29. März 1893) und durchzieht die ganze Agitation zu Vaterland, Verteidigung und Militär.
Nicht mit der reaktionären Masse zurück "Meine Herren, ich stehe innerlich den konservativen Parteien nahe", bekennt Graf Posadowsky am 13. Dezember 1898 im Reichstag. Auf parlamentarischer Ebene sind damit die Deutschkonservative Partei (DKP), Deutsche Reichspartei (DRP) und Teile der Nationalliberalen (NLP) gemeint. Die Vormänner der DKP und DRP heißen Hans von Kanitz (Ragnit-Pillkallen) und Hermann Dietrich (Templin). Für ihre Parteien stimmen 1903 bei den Reichstagswahlen 10,0 Prozent (= 54 Sitze) beziehungsweise 3,5 Prozent (= 21 Sitze). Otto Heinrich Helldorf (1833-1908) von der DKP organisierte die Kartellpolitik mit der Reichspartei (DRP) und den Nationalliberalen (NLP). Letztere auf dem rechten Flügel mit Johannes von Miquel (1828-1901) und Rudolph von Bennigsen (1824-1902) besetzt, ist nach den Wahlen zum Reichstag 1903 mit einem Stimmenanteil von 13,8 Prozent (= 51 Sitze) präsent. In der Flotten-, Kolonial- und Weltpolitik oder dem Arbeitswilligengesetz stimmt Posadowsky in einigen Quadranten mit ihnen überein, weniger, also nur bedingt, beim Umsturz-, Zuchthaus- und dem preußischen Vereinsgesetz. Unannehmbar bleibt die DKP-Losung aus dem Tivoli-Programm von 1892: "Wir bekämpfen, den vielfach sich vordrängenden und zersetzenden jüdischen Einfluss auf unser Volksleben." Als 1891 Ludwig Windthorst (1812-1891), der Gegenspieler von Reichskanzler Fürst starb, übernimmt noch im selben Jahr Ernst Lieber (1839-1902) den Parteivorsitz im Zentrum. Sie läuft zu den Flottenvermehrern über und macht so die Verabschiedung der Flottengesetze möglich. "Die ganze Misere," klagt am 10. Dezember 1903 August Bebel, "diese ganzen Schwierigkeiten sind in erster Linie dem Zentrum zu verdanken". 1907 schwenken Teile der Linksliberalen in den Bülow-Block ein, während das Zentrum - 1903 / 1907 mit 19,7 und 19,4 Prozent Stimmen, beziehungsweise 100 Sitzen - den Quasistatus einer Regierungspartei, begleitet vom Sturz von Posadowsky im Juni 1907, verliert. Die Fähigkeit und den aktuell politischen Wert der Parteien bewertet Bernhard von Bülow, von Oktober 1900 bis Juli 1909 als Reichskanzler und langjährigen Vorgesetzten von Posadowsky, nach den "in allen Parteien ruhenden patriotischen Gefühle(n)", die dazu dienten, im Klassenkampf gegen die Sozialdemokratie zu bestehen, und ihn zu bändigen sowie die stabile Finanzierung der Rüstung und Flottenvermehrung durch den Reichstag zu gewährleisten. "Wenn sie stark genug schienen für die praktische Mitarbeit an den nationalen Aufgaben des Reiches", sah der Reichskanzler seine Bestimmung darin, diese "zu wecken, zu beleben und sie spontan und vorurteillos festzuhalten." (Bülow 1916, 227). So war also die Steigerung nationalistischen Tendenz immer genehm. Im herkömmlichen Sinne sind die Freisinnigen keine Konservativen, doch betreiben und stützen sie in Kernbereichen ihre Interessen, speziell die Flottenrüstung und Kolonialpolitik. Bei den Reichstagswahlen 1903 erhielten die Freisinnige Vereinigung 2,6 Prozent und Freisinnige Volkspartei 5,7 Prozent (= 21 Sitze) der abgegebenen Stimmen. Vom neuen Staatssekretär des Reichsschatzamtes erwartet die reaktionäre Masse, fleißig am Werk mitzutun. Das kann er nicht versprechen. Seine politische Heimat liegt nicht im Konservatismus eines Karl Ferdinand von Stumm (DRP) oder des Gründers des Centralverbandes deutscher Industrieller (CDI) Wilhelm von Kardorff (DRP). Immerhin kommen sie darin überein, die christliche Lebensanschauung erwecken und erhalten zu wollen. Sie trennt deren Ambitionen der "rücksichtslosen Interessenvertretung". Ein wahrlich radikaler Konservatismus, der auf der Überzeugung ruht, daß die "Kampforganisationen des Proletariats", "indirekt an der Leutenot" schuld ist (Ludwig 1911, 20). Gegenwärtig läuft es darauf hinaus, die Sozialdemokraten aus dem Reichstag auszuschließen.
Die Deutschkonservative Partei (DKP) und Deutsche Reichspartei (DRP) greifen die parlamentarische Existenz der SPD an. Reichstagsabgeordneter Carl Ferdinand Stumm (DRP) äußert am 8. Mai 1895 wieder einmal den Wunsch des Großbürgertums nach einem Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie. Der Abgeordnete Limburg-Stirum (1835-1912), Breslau-Land, Neumarkt, verlangte am 8. März 1897 auf von den Konservativen mit "Pauken und Trompeten" angekündigten Dresdner-Parteitag, die Sozialdemokraten sollen aus dem Reichstag ausgeschlossen werden (Ludwig 21). Zugegen waren Freiherr von Manteuffel, von Erffa, Plötz, Kropatschek, Herbert Bismarck, alle Schattierungen des konservativen Lagers. Im Reichstag wiederholte am 8. März 1896 Graf Julius von Mirbach (Sensburg, Ortelsburg) seine Aufforderung zum Verfassungsbruch. "Er empfahl die Abschaffung des geheimen Wahlrechts und Erhöhung die Wahlfähigkeit erforderlichen Alters." (Ludwig 21) Graf Otto von Helldorff-Bedra, bis 1892 Führer der DKP, sprach davon, dass "der Parlamentarismus sich mehr und mehr als unfähig und seinen Aufgaben nicht gewachsen" erwiesen habe und weitgehend diskreditiert sei. (Vgl. Mommsen 65) Immer wieder äußert das rechtskonservative Lager Zweifel an der Problemlösungskompetenz des Reichstags, womit das politische Verhalten der Sozialdemokraten, ihr parlamentarisches Auftreten und besonders ihre Stimmabgabe gemeint war. Posadowsky lehnt "im Unterschied zu vielen Standesgenossen ein Regieren gegen die Mehrheit der Volksvertretung strikt ab, . Die Konsequenz war eine Anlehnung beim Zentrum und bei den Linksparteien." (Joachim Bahlcke Ostdeutsche Biographien)
Etat- und Anleihegesetz 1894/95 zurück Kaiser Wilhelm II. erteilt am 16. November 1893 in der Thronrede zur Eröffnung der 2. Sezession des am 15. Juni 1893 gewählten Reichstages den Auftrag:
Kann der neue Staatssekretär des Reichschatzamtes die Matrikularbeiträge ordnen, die Abgaben der Länder an den Zentralstaat, in einer akzeptablen Systematik darstellen? Wie wird er die Lasten der Reichsfinanzreform verteilen? Wird er die Flotten- und Hochrüstung durch Erhöhung der indirekten Steuern, die ja diejenigen sind, welche das Reich in der Hauptsache zur Verfügung hat, aber vorzugsweise die minderbemittelten Klassen schwerer belasten als die Wohlhabenden, finanzieren? Wird er den Staatshaushalt auf ein solides Fundament stellen können?
Eine der schwierigsten Aufgaben für Posadowsky´s war, die Ausfinanzierung von Heer und Marine. Längst nicht alle Bürger möchten dem "Moloch des Militarismus" (Eugen Richter) weitere Opfer bringen. Nicht nur Sozialdemokraten und der Linksliberale Eugen Richter (1838-1906) von der Deutschen Freisinngen Partei wehren sich recht öffentlichkeitswirksam dagegen. Eine allgemeine Mißstimmung kommt auf. Sie könnte die Erfüllung der Aufgaben gefährden und Posadowsky Pläne empfindlich stören. Die erste Bewährungssituation für den neuen Reichsschatzsekretär kündigt sich für den
an. Im Reichstag steht die erste Beratung zur Festsetzung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend des Reichshaushaltsgesetzes 1894/95 an. Sein Amtsvorgänger wies für das Haushaltsjahr 1892/93 ein Defizit von 6 Millionen aus. Nachdem die Matrikularbeiträge erhöhte wurden, ergab sich ein kleiner Überschuss von 7 4/5 Millionen Mark. Den Neuen stellt die Art und Weise der Haushaltsfinanzierung nicht zufrieden. Er will das Reich durch die Erschließung und Bewilligung neuer Einnahmequellen finanziell emanzipieren. Im Anschluss an seine Rede vor dem Reichstag übernimmt ein Vertreter vom Zentrum das Rednerpult. Auf ihn folgt August Bebel mit der Methode klare Ansagen: "So weit das vorgetragene Zahlenmaterial sich auf den Etat stützt, ist dasselbe unzweifelhaft unanfechtbar; so weit dieses vorgetragene Zahlenmaterial sich aber, ich möchte sagen, auf Zukunftsmusik stützt, ist dasselbe nach meiner Überzeugung sehr anfechtbar." Der jährliche einmalige Zuschuss von 2 1/2 Millionen erhöht sich, wie er sagt, auf 3 1/2 Millionen Mark. Nun war der Vorredner, Carl Fritzen (1844-1933) aus der Rheinprovinz, Zentrumspartei, Amtsgerichtsrat zu Dülken, auf die Kolonialpolitik eingegangen. ".... ich bin", erwidert August Bebel, "im Gegensatz zu dem Herrn Vorredner der Meinung,
Würde man allein diese finanziellen Opfer für die Hebung des Volkswohlstandes einsetzen, könnten man damit bessere Resultate erzielen. Der Vorredner hat nichts erwähnt, was vorteilhaft in diese Richtung gedeutet werden könnte. Lediglich das Missionswesen hat einen Aufschwung genommen. "Nicht weniger als 12 katholische Missionen" wurden ins Leben gerufen. Die Herren vom Zentrum sind von jeher dafür eingetreten, "damit das Christentum in jenen schwarzen Gegenden verbreitet wurde". (Bebel RT 27.11.1893, 104) Nach 1 ½ Stunden löst ihn auf der Tribüne der Königlich preußische Staats- und Kriegsminister, General der Infanterie Bronsart von Schellendorff (1830-1913) ab. Er hat einiges zu tun, um die Keulenschläge vom SPD-Frontmann für seine Klientel in den entsprechenden Interpretationsrahmen zu bringen. Die Summe an geforderten neuen Steuern beträgt jetzt 100 Millionen Mark, 60 Millionen für die Heeresvorlage und 40 Millionen für andere Zwecke. Eugen Richter (RT 28.11.1893, 126 ff.) bleibt mißtrauisch gegenüber dem Schatzsekretär Posadowsky, der "gleichwohl nebenbei noch die Deckung für die im Laufe der nächsten zehn Jahre entstehenden Ausgaben" reklamierte. Welche Kosten in welcher Höhe entstehen, wendet er ein, lässt sich heute noch gar nicht übersehen. Dazu kommen die schweren Lasten der indirekten Steuern, die sich mit der Militarisierung des Staates weiter erhöhen. Von 1872 bis 1893 stiegen sie von 240 auf 680 Millionen (Karl Bachem 1894). Posadowsky, vermutlich etwas unter dem Eindruck von Eugen Richter stehend, erhält erneut das Wort und schlägt vor, dass bei Annahme der Vorlage, entschieden werden müsse, wie die Lasten auf die Interessengruppen verteilt werden.
Die Vorgänge um die Matrikularbeiträge verursachen zunehmend Ärger, und könnten, wenn man so weiter macht, gar Partikularambitionen bei den Ländern wecken. Die Regelung der Finanzen zwischen dem Reich und den Einzelstaaten war eine politische und finanzielle Notwendigkeit. Die Beendigung der unglückseligen Praxis, erklären 1925 (391) Doktor Hans von Arnim und Professor Doktor Georg v. Below, nannte man damals Finanzreform. Ihr Ziel war ein stabiles Gleichgewicht zwischen den Leistungen des Reiches an die Bundesstaaten und der Länder an das Reich herzustellen, was wiederum eine bessere Finanzausstattung erforderte. Folgerichtig begann man umgehend, nach außerordentlichen Mitteln zu suchen. Im Sinne der Neuordnung des Finanzwesens, kam die Bildung eines Reichsministeriums in Gespräch, was aber verworfen wurde.
Reichsfinanzreform zurück Am 29. Januar 1894 tagt der Reichstag zur
Zur Eröffnung der Sitzung spricht der Staatssekretär des Reichsschatzamtes Graf von Posadowsky. (Posa RT 29.01.1894, 908ff.) Er stimmt die Bürger und Kollegen auf die Schwierigkeiten ein: "Das Finanzreformgesetz ist so eine außerordentliche komplizierte Materie die eine eingehende Kenntnis unseres ganzen Finanzwesens erfordert, und es ist klar, dass weite Kreise der Bevölkerung, die von einem solchen Projekt nur durch die Zeitungen Kenntnis erhalten haben, das Verständnis für eine derartige großartige organisatorische Maßregel fern liegt und schwierig ist."
Fall-zu-Fall-Lösungen helfen wenig. Notwendig sind Systemlösungen, was den Erwartungen der Reichsleitung entspricht: Das heißt, um die Einzelstaaten gegen die schwankenden Einnahmen und Ausgaben des Reiches zu schützen, muß das System Matrikularbeiträge reorganisiert werden. Aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen und Planungen, wird das nicht einfach. Das Finanzreformgesetz soll eine feste Relation zwischen den Matrikularbeiträgen und Überweisungen herstellen. Überschüsse der guten Jahre, könnten in einen Reservefonds zur Deckung der Fehlbeträge in schlechten Jahren einfliessen. Wenn sich die Überweisungen und Matrikularbeiträge decken, oder sobald, wie es jetzt der Fall ist, sie die Summe der Überweisungen übersteigen, hat die Frankenstein Klausel nachgerade keinen Wert mehr und sie - befürchtet man - wird Alterit. Die Einzelstaaten sind über die Gesetzgebung mit dem Reich und Einnahmen aus indirekten Steuern und Zöllen verschränkt. Bei erhöhten Einnahmen im Reich durch Zölle und Verbrauchsabgaben erhalten sie davon einen Anteil. Seit 1879 wurden ihnen so 454 Millionen Mark Steuern erlassen. Rechnet man die Steuererhöhungen dagegen, bleiben 358 Millionen Mark an Einnahmen. Weiter rechnet Posadowsky vor, dass den Einzelstaaten jährlich etwa 54 1/2 Millionen Mark an Steuern und Abgaben geschenkt wurden. Gleichzeitig sind jährlich 12 Millionen Mark an neuen Steuern und Steuererhöhungen zur Erhebung gelangt. Schätzungsweise beträgt der Erlaß aus den Überweisungen über 42 Millionen Mark. Das hat zur Folge, dass der Bundesstaat auf dem Defizit sitzen bleibt. Kalkulieren vielleicht, die jetzt die Reichsfinanzreform ablehnen so? Das entspräche nicht den Abmachungen die beim Abschluss der Zollgesetzgebung und Erhöhung der Verbrauchsabgaben seit 1879 getroffen wurden. (Posa ebenda 910) Als Einwand wurde
vorgetragen, dass der für die nächsten fünf Jahre prognostizierte
Anstieg der Einnahmen von angeblich 89 Millionen Mark, der Bund den
Einzelstaaten für ein Linsengericht abkaufen will. Den Finanzministern
der Länder ist jetzt allerdings der Sperling in der Hand lieber als
die Taube auf dem Dach. Die nehmen eher etwas kleinere Überweisung
in Kauf und bekommen dafür eine kalkulierbare, feste Überweisung.
(Posa RT 29.1.1894, 910) Ausserdem sollen endlich bewegliche Zuschläge zu den Verbrauchssteuern und Zöllen eingeführt werden. Schlägt Posadowsky mit der Erhöhung der indirekten Steuern den richtigen Weg ein? Das Reich verfügte über hunderte Millionen an Mehrerträgen, um den "Moloch des Militarismus" (Eugen Richter) zu finanzieren. Könnten Besitzsteuern diesen Prozess nicht gerechter gestalten? (1906 wird in den Ländern die Erbschaftssteuer und 1913 die Besitzsteuer nebst Wehrbeitrag eingeführt.) Gegen die Ausdehnung der indirekten Steuern und das Abgabensystem, so ist die Lage, kommt in weiten Teilen der Bevölkerung zunehmender Unwillen auf. Es wächst die Frage auf, ob denn die Volkwirtschaft schlechterdings überhaupt in der Lage ist, die wachsenden finanziellen Belastungen der Rüstung zu tragen. Das Reichsfinanzreformgesetz ist politisch und verwaltungstechnisch umstritten. Im Verlauf der Debatte zur Reichstagsvorlage vom 29. Januar 1894 (908) bilden sich drei Gruppen:
Mit Emphase stürzt sich der Finanzminister von Preußen Johannes von Miquel auf die Reform und überbringt den Reichstagsabgeordneten die frohe Botschaft, dass alle, außer den Freisinnigen, im preußischen Abgeordnetenhaus vertretenen politischen Richtungen diese unterstützen. Eine Ablehnung, warnt er, würde den Überhang der Matrikular-Beiträge vergrößern und die Einzelstaaten könnten den Föderativen Staat dann nicht mehr als Wohltäter empfinden. Ernst Lieber (1838-1902) verweist darauf, dass Zölle und indirekte Steuern, die 130 Millionen Mark übersteigen, vom Reich unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahl den Einzelstaaten überwiesen und gegebenenfalls als Matrikularbeitrag zurückgefordert werden müssten. So verlangt es die Franckensteinsche Klausel (die erst mit dem Gesetz vom 14. Mai 1904 abgeschafft wird). Auf diese Weise haben die Einzelstaaten 287 Milliarden Mark zurückerhalten. Deshalb ist ein "wahres Glück", dass wir uns hier über ihr "wahre Bedeutung" beraten können, betont der Zentrums-Abgeordnete. Die Schuldentilgung im Reich, ist gegenwärtig nur durch die Erhöhung der indirekten Steuern, lehrt Johannes von Miquel, zu erreichen. Beim "Darniederliegen von Handel und Gewerbe" (Lieber) ist dies kein guter Weg. Die Sozialdemokraten nehmen seine Vorhaben nicht so positiv auf, wie man es allgemein erwarten würde. Durch sein Konzept könnten lediglich 94 Millionen Mark aufgebracht werden, was nicht mal die Kosten der Militärvorlage deckt. Miquel könnte, streut am 16. November 1893 der Vorwärts (Berlin), zum Konkursverwalter werden. Bald setzt das fröhliche Weiterwirtschaften ein:
Mit anderen Worten Bankrott, das ist das Ergebnis der 20jährigen Finanzwirtschaft der besitzenden Klasse im "großen" Deutschen Reiche." Der Reichstag sucht in einer mehrtägigen Aussprache eine Antwort darauf, welche Steuererhöhungen generell in Frage kommen.
Der Wahre Jakob flirtet auf der Titelseite der 94´er Dezember-Ausgabe mit der Grand pas du Finanzreform. Während Backstage eine schmucke Tanzgruppe aufpoppt, jongliert Staatssekretär Graf von Posadowsky temperamentvoll mit der Tabak-, Bier-, Schnaps- und Weinsteuer. Die Kostüme der Damen tragen die Namen der Länder Baiern, Württemberg, Preussen, Sachsen, spielen also auf die Misere der Matrikularbeiträge an. Ihre Körpersprache deutet darauf hin, als ob sie ihre Drehungen im Großen Eröffnungs-Ballet nicht sobald aufführen wollten. Der Soufflleur am unteren Bildrand gebietet "Miquel, Miquel". Bei passender Gelegenheit, wäre noch zu klären, was dies bedeutet. Großes Eröffnungs-Ballet. Der Wahre Jacob. Jahrgang 11. Heft 218, Stuttgart, den 1. Dezember 1894, Titelblatt, Ausschnitt
[a] Börsensteuer. Sie lehnt Posadowsky mit Rücksicht auf die Lage in der Wirtschaft und Handel ab. Wir dürfen uns nicht verhalten "wie jener der den Baum fällt, um die Früchte zu pflücken". Der Berliner Börse vertraut dann ihre Werte ausländischen Kapitaleigner an. Wenn das Geschäft nicht lohnend, werden ihr Kapital herausziehen, befürchtet er. [b] Wehrsteuer. Zu ihr sollen die vom Militärdienst freigestellten verpflichtet werden. Allenfalls wäre es möglich, so diskutiert man, wenn man für die Bemessung eine Einkommensgrenze einzieht, was eine amtliche Prüfung erfordert, und aller Erfahrung nach einem ziemlichen Verwaltungsaufwand, ohne Aussicht auf einen angemessenen Ertrag, verlangt. Schwerer als dieser Einwand wiegt das Los der Betroffenen. In welchen Zustand befinden sie sich, fragt Posadowsky, die vom Dienst im Heer freigestellt oder entlassen wurden?
"Nun sollen wir uns von diesen Leuten auch noch Steuern erheben!" Er möchte keine Blinden, Lahme und Taube zur Wehrsteuer heranziehen. (Posa 29.1.1894, 909)
[c] Der Streit um die "Liebesgaben" - die staatlichen Subventionen für die Agrarier und Grundbesitzer - durchzieht die Geschichte der deutschen Landwirtschaftspolitik. Meist flammt er in Verbindung mit der schwierigen Lage der Landwirtschaft in Ostdeutschland, Ost- und Westpreußen auf. "Wir haben auch wieder einen alten Bekannten bei der ganzen Debatte gefunden: das ist die Liebesgabe", begrüsst sie Graf von Posadowsky am 29. Januar 1894 im Reichstag. Anlass hierfür war die Nachricht, dass in Preußen gegenwärtig die Pachtgebühren für die Domänen sinken. Was das bedeutet, "wenn die Landwirthe immerfort selbst sagen, "das ist ein Gewerbe, bei dem man zugrunde geht", will er, um Verständnis für die Notwendigkeit von Subventionen zu erzeugen, gründlich darlegen. Hierzu referiert er aus einem Dokument zur Lage der Landwirtschaft, das ihn von einer als zuverlässig bekannten Person überreicht wurde, den die Landwirtschaft ernähren soll, aber der sich oft überfordert fühlt. Dieser Herr fasste das Schicksal der Landwirtschaft im Osten Deutschlands mit der Untersuchung seit dem Jahre 1881 zusammen. Von den 126 selbständigen Gutsbesitzern sind 42 durch Zwangsverkauf vom Boden getrieben. Weitere 9 stehen gerade vor diesem Ereignis. 27 entzogen sich der Entscheidung durch Verkauf. Viele verkaufen, ehe die Subhaftation (Zwangsversteigerung) zuschlägt, weil sie Banken finden, die ihr Kapital retten wollen und Strohmänner auf das Gut setzen. "Meine Herren, ich glaube, das ist ein Dokument, das doch einmal ein klassisches Beispiel von der Lage der Landwirthschaft im Reiche giebt, und ich glaube, meine Herren, unter solchen Verhältnissen kann man nicht die Forderung erheben, das ein landwirthschaftliches Produkt, das bereits über 200 Prozent seines Werthes Steuer trägt, noch weiter besteuert werden sollte, während man andere Luxusartikel wie Tabak, die 16 Prozent vom Werthe als Steuer tragen, nicht höher besteuern will." (Posa RT 29.1.1894, 909) "Aber vergessen Sie hierbei etwas nicht," warnt Graf Posadowsky 1905, "Großgrundbesitz ist auch unbedingt nötig, er ist nötig für unsere hoch entwickelte Selbstverwaltung. .... Der Großgrundbesitz ist aber auch bisher immer der Führer im landwirtschaftlichen Fortschritt gewesen. (Sehr richtig!) Der Großgrundbesitz kann Versuche machen mit neuen Viehrassen, neuen Düngemethoden, neuen Maschinen, Versuche, die manchmal fruchtlos sind, die in der Regel sehr kostspielig sind, und die der kleine Mann nicht riskieren kann. (Sehr richtig!)" (Posadowsky RT 22.2.1905, 4699) Der Hang zum falschen Luxus, erklärt Posadowsky 1909 den Delegierten des 20. Evangelisch-Sozialen Kongresses in Heilbronn, führt zu seelischer und körperlicher Entartung. Dagegen muss das Schicklichkeitsgefühl des Einzelnen und des Volkes erzieherisch aufstehen. Wenn Eigentum und Reichtum auf dem Land lediglich dazu dienen, persönliche Eitelkeiten zu befriedigen, deformieren Verhältnisse. Sie gestalten sich negativ. Väter die sich durch Fleiß eine eigene Stellung geschaffen, "haben gar zu oft verwöhnte Söhne, und der Volkswirt muss es dann freudig begrüßen, wenn übel verwendetes Gut in bessere Hände übergeht."
Der nationalliberale Abgeordnete Dr. jur. Johannes Semler (*1858) schlägt am 25. April 1912 im Reichstag die große Glocke, um zu verkünden, was ihm Posadowsky einst anvertraute:
Es wirft ihn nicht um. Angesichts der schwierigen wirtschaftliche Lage der östlichen Landwirtschaft verteidigt Posadowsky die Subventionspolitik (Posa RT 25.4.1912, 1426 bis 1428). Politik und Ökonomie marschieren nicht im Gleichschritt. Löst man die "Liebesgaben" aus den Grundlagen und Widersprüchen der ostelbischen Agrarproduktion und politischen Kämpfe mit den Agrariern heraus, kann man sie nicht begreifen. Bereits 1 8 8 7 ergehen aus dem Reichstag Warnungen, wenn Zollerhöhungen das Sinken der Getreidepreise nicht abbremsen, können das die ostelbischen Grundbesitzer ökonomisch nicht verkraften. Unweigerlich verschärft der massenhafte Import des billigen amerikanischen und russischen Getreides die Lage weiter. Die Agrarier stürzen, was der Ökonom "Krise" nennt, in den Abgrund. Was kann ist zu tun? Sind staatliche Subventionen vermeidbar? [d] Inseratensteuer. Sie liegt quer zu den Interessen der Stellensucher und bringt unzumutbare Belastungen für diejenigen, die Todesanzeigen aufgeben müssen. - Abgelehnt! [e] Biersteuer. Hiergegen opponieren die Bayern. "Ich habe aber die Überzeugung," sagt Posadowsky am 23. März 1895 im Reichstag, "die Bierschlange wird immer wieder ihr drohendes Haupt erheben." [f] Tabakfabriksteuer. In einem Kampf-Auftritt protestiert am 19. Februar 1895 der Reichstagsabgeordnete Fritz Geyer im großen Saal vom "Weißen Hirsch" in Magdeburg gegen die Tabakfabrikatsteuer. Während sich die Konservativen und Nationalliberalen für diese Steuer erwärmen, die Freisinnige Volkspartei nicht den Mut des Protestes besitzt, bleibt als Gegner nur die Sozialdemokratische Partei Deutschlands übrig (VS 13.2.1895). An vielen Orten im Reich stieß ihre Einführung auf Ablehnung. In der
wird das Gesetz zum Zollkartell mit Österreich-Ungarn, der Gesetzesentwurf über die Fürsorge für die Witwen und Waisen der Personen des Soldatenstandes des Reichsheeres und der Marine von Feldwebel abwärts beraten. Außerdem steht zum zweiten Mal das Tabak-Steuergesetz auf der Tagesordnung.
Die Tabakarbeiterklasse umfasst circa 300 000 bis 400 000 Personen. Es ist eines der gesundheitsschädlichsten Gewerbe. Nikotinvergiftung und Stäube verursachen verschiedene schwerer Krankheiten. Trotzdem zahlt diese Branche mit die niedrigsten Löhne der deutschen Industrie. Im Durchschnitt verdient eine Tabakarbeiterfamilie, Mann und Frau sind also zusammen tätig, 14 bis 20 Mark pro Woche, was in allen Gegenden des Deutschen Reiches kaum groß voneinander abweicht. (DNZ 1894, 567, 572) "Man möge eine blühende Industrie nicht lange durch solche Projekte beunruhigen", rät der Abgeordnete und ab 1905 Vorsitzender der Nationalliberalen Partei (NLP) Ernst Bassermann (1854-1917), weshalb er die Fabrikat-Steuer ablehnt. Wilhelm von Kardorff (1828-1907), Deutsche Reichspartei, akzeptiert diese Steuer, weil wir ein Kulturstaat sind und nicht hinter anderen zurückbleiben wollen. "Wir sind der Überzeugung," stellt Hermann Molkenbuhr (SPD) klar, "daß der größte Teil der Mehrbelastung des Tabaks auf die Arbeiter übergewälzt." Die indirekten Steuern, fordert der Reichstagsabgeordnete Karl Bachem (1858-1945), müssen im richtigen Verhältnis zur Belastung der mittleren und oberen Klassen mit den direkten Steuern stehen. Sie sind in den letzten Jahren bedenklich gewachsen, was die minderbemittelten Klassen hinreichend belastet. Ernst Bassermann (*1854) aus Mannheim weist mit allen ernst darauf hin, dass "ja zweifellos nicht geleugnet werden" kann, "daß in weiten Kreisen der Bevölkerung
gegen die Ausdehnung des indirekten Steuersystems vorhanden ist ...." (RT 2250) Jedenfalls werde das Zentrum das Tabak-Steuergesetz ablehnen. Ansonsten befürchtet Karl Bachem, dass auch die Einzelstaaten die direkten Steuern erhöhen. (Vgl. Bachem 30.1.1894 und 13. Mai 1895) Posadowsky hält, die er geschickt als maßvoll vorstellt, an der höheren Besteuerung fest, weil sie sich mit 10 Millionen Mark Einnahmen pro Jahr begnügt. Dadurch würden die minderbemittelten Bevölkerungsklassen nur ganz gerinfügig betroffen und die sozialen Bedenken gegen die Vorlage deutlich abgemindert. Doch leider habe die Kommission, zu seinem schmerzlichen Bedauern die Vorlage abgelehnt. Da kam alles Mögliche zu Sprache, zum Beispiel, dass ein gesteigerter Verbrauch des indischen Tabaks zu erwarten ist. Um die Folgen aufzufangen, müsste der Wertezoll eingeführt werden, was aber langwierig und deshalb in dieser Session nicht mehr realisierbar ist. Der Nationalliberale Abgeordnete Ernst Bassermann aus Mannheim lehnt im Interesse der Industrie die Tabakfabriksteuer ab. (Vgl. LV 15. Mai 1895) [g] Weinsteuer. Vor allem Württemberg bringt Einwände vor. Der Bevollmächtigte des Bundesrates für das Königreich Preußen und preußische Finanzminister Doktor Johannes von Miquel (1894, 921) hält dagegen: Der Wein darf als Luxusartikel nicht frei bleiben. Um den Worten Gewicht zu verleihen, plustert er sich auf und imaginiert: Wir vertreten die öffentliche Meinung. [i] Zuckersteuer. Die Debatte läuft ins Leere. "Welchen tatsächlichen Wert diese postume Debatte über die Zuckersteuer haben soll," äußert am 12. März 1897 Posadowsky im Reichstag offen, "ist mir bis jetzt nicht ganz klar geworden, weil gar kein Abänderungsantrag vorliegt."
Kann Posadowsky die Reform durch die Stromschnellen steuern? Er weiss es nicht genau, blickt hinüber in das Lager der Patrioten, zu den Bürgerlichen. Auch dort, fürchtet er, könnte die Stimmung umkippen. Was wenn die "Unzufriedenheit ins Unangemessene steigt"? Und den Sozialdemokraten, was nicht schwer vorauszusehen, lacht das Herz im Leibe. Denn sie brauchen den Baum gar nicht mehr zu schütteln, "die Früchte fallen ihnen schon durch den Sturm der Parteien in den Schoss". Wird das so eintreffen? Wann wird uns das Reichsschatzamt vom Überfluß befreien? Seine V o r a h n u n g zaubert "Der Wahre Jacob" im September 1894 in die Karikatur "Venus die Auftauchende" (1894) hinein. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner und Johannes von Miquel (1829-1901), 1890 von Reichskanzler Leo von Caprivi zum preußischen Finanzminister berufen, treiben auf hoher See. Vorne auf dem Ungetüm sitzt der Mann mit dem Säbel und kündigt die Steuer-Execution an. Eine weitere Beratung zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend die anderweite Ordnung des Finanzwesens des Reiches, optimistisch auch als Finanzreformgesetz bezeichnet, findet am 25. Februar 1895 statt. Wie üblich leitet der Reichsschatzsekretär die Verhandlungen mit einem Referat ein. Die Lage scheint etwas vertrackt. [a] Er glaubt nicht daran, dass der Postzeitungstarif für eine Poststeuer taugt. [b] Die Einführung der Wehrsteuer hält er für nicht möglich. [c] Ein Tabakmonopol ist undurchführbar. [d] Und doch sind höhere Einnahmen notwendig. Nach ihm spricht Eugen Richter von der Freisinnigen Volkspartei (FVp). Einen
wie Posadowsky ihn plant, stellt er klar, widerspricht den Reichs- und Einzelinteressen der Staaten und unterläuft das Einwilligungsrecht des Reichstages. Die bisherigen finanzpolitischen Arbeitsweisen stimulieren niemanden zur Sparsamkeit. Das beurteilen die Sozialdemokraten ganz ähnlich. Wilhelm Liebknecht sah bereits am 14. Januar 1887 die "Volkvertretung zu einer Geldbewilligungsmaschine" herabgedrückt. Inzwischen erschien der preußische Finanzminister Johannes von Miquel und Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, die sich an der Diskussion nicht beteiligten. Eugen Richter bläst der Wind ins Gesicht. Der Königlich bayerische Ministerialdirektor Stengel, der Großherzögliche meiningsche Staatsminister Doktor Heim und der Großherzögliche sächsisch Wirklicher Geheimer Rat Doktor Heerwart lehnen die Erhöhung direkter Steuern ab. Doktor Lieber vom Zentrum verteidigt erneut, wenn auch im Moment etwas sanfter als früher, die Frankensteinsche Klausel und legte großen Wert darauf, dass die Einzelstaaten an etwaigen Überschüssen teilhaben. Rittergutsbesitzer Doktor Arnold Waldemar von Frege (1846-1916) aus Altnaundorf (bei Leipzig) war für die Vorlage.
Am zweiten Tag der Beratung spricht August Bebel und übt erneut harte Kritik daran, die wachsenden finanziellen Belastungen durch Erhöhung der indirekten Steuern zu bewältigen. Es geht anders, sagt er, wie in Bayern, wo die wohlhabenden Klassen durch direkte Steuern an den Lasten des Staates beteiligt werden. Posadowsky tritt (am 26. Februar 1895) in der Diskussion gegen Eugen Richter auf, der ihn am Vortag beschuldigte, nicht 57, sondern 44 Millionen betragen Kosten für die Militärvorlage. Doch es bleibt dabei, die Gesamtkosten erhöhen sich, unter Einrechnung der Zinsen für die einmaligen Ausgaben, auf 57 Millionen Mark. Meine Deduktionen, verteidigt er sich, waren also vollkommen richtig. Dann steht kurz der künftige Finanzbedarf des Reiches zur Diskussion. Statistisch müsste der Staatshaushalt jährlich um zirka 4 Prozent steigen. Dies ist, räumt er gegenüber dem Abgeordneten Eugen Richter ein, kein angenehmer Gedanke. Wir müssen also sparen. Nur wo, wann und woran? Tun die Verantwortlichen wirklich alles dafür? Wilhelm von Kardorff (*8.1.1828) meldet Zweifel an. Die Finanzverhältnisse, hält er dem Reichstag am 18. März 1897 vor, schauen auf den ersten Blick nicht so glänzend aus. Wohl haben wir "in Preußen und hier im Reich so umsichtige und vorsichtige Leiter der Finanzen, in Preußen den Herrn Finanzminister von Miquel, dem man wirklich nicht Verschwendung und Unvorsichtigkeit vorwerfen kann,
und diese beide Herren tragen gar keine Bedenken, eine dauernde Belastung des Budgets herbeizuführen durch das Beamtenbesoldungsgesetz, die weit stärker, drei- bis viermal stärker, als die Belastung, die Sie bewilligen sollen, - eine dauernde Belastung, die für Preußen, wenn man alles zusammenrechnet, was an Erhöhung der Pensionen u. s. w. hinzukommt, etwa 40 Millionen beträgt. Das ist eine dauernde Belastung, die ungefähr dem gleichzustellen ist, als ob wir eine 1 1/4 Milliarden Reichsschulden machten." (Kardorff RT 18.3.1897, 5157) [Gescheitert im Überfluss zurück] Zusammen mit der vorgelegten Tabaksteuer-Vorlage, die einst auf der Finanzministerkonferenz am 26. November 1893 ausdrücklich als ihr Rückgrat bezeichnet wurden, erhält die Reichsfinanzreform heute am 13. Mai 1895 ein schlichtes Begräbnis. Zuvor unternahm Posadowsky ein letztes Mal den Versuch die Tabaksteuer und Reform zu retten, und mahnte, nichts Lebendes mit Toten zu begraben. Nur der Zigarrenarbeiter Hermann Molkenbuhr von der SPD und der Rittergutsbesitzer und Landrat a. D. Graf Kardorff aus Bernstadt in Schlesien halfen ihn dabei. "Über die Belastung der schwachen Schultern werde jetzt allgemein geklagt; es wird sogar von schulterschwachen Millionären gesprochen", hörte am 26. Februar 1895 die Ostdeutsche Rundschau aus Wien. Resigniert packt Graf von Posadowsky, berichtet aus dem Deutschen Reichstag das Voralberger Volksblatt, gegen nachmittags 3 Uhr seine mächtigen Aktenstöße in eine schwarze Ledermappe. Dann verkündet der Präsident, dass die Vorlage zur Reichsfinanzreform in allen Teilen abgelehnt ist. Unbefangen betrachtet, war es ein Eklat. An der Reichsfinanzreform hing sein Herzblut. Unter den historisch gegebenen Beziehungen zwischen Bundesstaat, Bundesrat und Einzelstaaten, reicht der Hauptverantwortliche Ende 1919 in "Deutschlands Erneuerung" nach, war sie nicht durchführbar. Genauer wird er nicht. Gemeint sind wahrscheinlich folgende Schwierigkeiten: E r s t e n s die Steuerquellen, was Verlauf und Form der Reichstagssitzung vom 29. Januar 1894 gut veranschaulicht, müssen aus allen möglichen Verkehrsformen von Waren, Umsätzen und Geld abgespalten, sprich zusammengekratzt werden. Z w e i t e n s. Zwischen den deutschen Einzelstaaten bestehen große wirtschaftliche Unterschiede fort. Deshalb ist es d r i t t e n s fraglich, ob man sie auf die Gefahr hin noch größere Ungerechtigkeiten hervorzubringen über ein einheitliches Steuerrecht brechen kann. Ursache des Scheiterns der Reichsfinanzreform waren objektiv bestehende Entwicklungsunterschiede zwischen den deutschen Ländern. Also, "Venus die Auftauchende" wird noch nicht zur Steuer-Execuition erscheinen. Vielmehr muss sich - O-Ton! - "Der arme Posadowsky" im Sommer 1895 mit Millionen von Überschüssen im Reichsetat herumschlagen. Eine gefährliche Lage. Womöglich verliert jetzt der Letzte noch den Glauben an die Notwendigkeit der Vermehrung der Staatseinnahmen durch Tabakfabrikat-, Bier- und Weinsteuer. Der oberste Finanzstratege des Landes deckt seinen Rückzug, indem er mitteilt, dass ein Wiederaufruf der Reichsfinanzreform erst dann sinnvoll ist, wenn die Konvertierung der Reichsanleihen gewährleistet ist. "Wir sind für eine gründliche Zinsherabsetzung der Reichs- und preußischen Anleihen. Wird diese in unserem Sinne durchgeführt, dann haben die Posadowskyschen Pläne vollends jede Berechtigung verloren." (Vorwärts 24.08.1995) Das Problem der Matrikularbeiträge bleibt ungelöst. "Wir sehen darin keinen Schutz gegen Übergriffe der Reichsfinanzverwaltung und der einzelnen Ressorts", hebt Eduard Bernstein am 15. Mai 1906 im Reichstag hervor. "Wir sehen im Gegenteil darin eine Aufmunterung der einzelnen Ressorts, mehr auszugeben (....), weil die einzelstaatlichen Vertretungen bei ihr vor jeder Verantwortung geschützt sind." Wenn die Matrikularumlagen gebunden, und die Ausgaben steigen, dann bleibt eben weiter gar nichts übrig, als entweder neue Schulden zu machen oder wieder eine Vermehrung der indirekten Abgaben vorzunehmen. Bevor Eduard Bernstein den Aktendeckel zuschlägt. sagt er: "Auf keines von beiden können wir uns einlassen, wir halten nach wie vor daran fest - und um so mehr werden wir uns jeder Nachgiebigkeit mit Bezug auf die Matrikularumlagen entgegenstemmen -, daß eine
Auf eine einheitliche Reichsabgabenordnung und Abschaffung der Matrikularbeiträge wartete das deutsche Finanzsystem bis zur Erzbergersche Finanz- und Steuerreform 1919/20. Trotz der Widrigkeiten mit den Matrikularbeiträgen und dem Scheitern des Finanzreformgesetzes bescheinigt Eugen Richter dem Staatssekretär des Reichsschatzamtes am 13. Dezember 1897 eine gute Arbeit. Der kritische Parlamentskollege von der Freisinnigen Volkspartei (FVp), erkennt bei ihm durchaus den Vorsatz, die Verwaltung zu vereinfachen, möglichst viel Klarheit und Durchsichtigkeit zu erreichen. Das war keine Selbstverständlichkeit, wies doch die Etatplanung in den letzten Jahren dazu gegenläufige Tendenzen auf. Als Posadowsky 1897 die Geschäfte im Reichsschatzamt niederlegt, verzeichnete der Staat einundzweidrittel Milliarden Mark Schulden. Vierzehn Jahre später waren sie bereits auf über fünf Milliarden Mark angewachsen. (Posa RT 16.2.1912, 81)
Umsturzvorlage zurück "Die Sozialdemokratie
hat eben ein wahres Schweineglück in der Politik, Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819-1901) bringt am 5. Dezember 1894 in den Reichstag den Entwurf eines Gesetzes, betreffend Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzbuches und des Gesetzes über die Presse ein, auch Umsturzgesetz genannt. Damit sollen die gefährlichen Bestrebungen zur gewaltsamen Beseitigung der bestehenden Verfassung und Gesellschaftsordnung des Deutschen Reiches bekämpft und geahndet werden. Auf "Umsturz" steht eine Strafe von fünf Jahre Zuchthaus. Undemokratisch daran war vor allem die damit einhergehende gesetzlich gestützte Willkür, die ein gewaltiges Explorations- und Tätigkeitsfeld erhielt.
In der abschließenden Debatte am 11. Mai 1895 tadelte Adolf Gröber (1854-1919) mit dem gut eingeführten Begriff des Scharfmachers, den preußischen Justizminister Karl Heinrich Schönstedt (1833-1924) und den Preußen Ernst Matthias von Köller (1841-1928). Ihr höchst ungeschicktes und ungehobeltes Auftreten, wollte der volkstümliche Zentrumabgeordnete aus Württemberg nicht hinnehmen.
sagt Adolf Gröber unter viel Zuspruch im Saal voraus, "und der Triumph der Sozialdemokratie ist fertig." Nach heftigen ideologischen Kämpfen, lehnt die Mehrheit des Reichstages an diesem Tag die Vorlage in zweiter Lesung ab. Als der Kaiser die Mitteilung vom Reichskanzler erhielt, verschluckte der sich wieder und sprach: "Besten dank für die Meldung. Es bleiben uns somit noch die Feuerspritzen für gewöhnlich und Kartätschen für die letzte Instanz übrig." (Fürst Clodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst 1931, 63) "Es ist indeß noch nicht aller Tage Abend", warnt der Vorwärts (Berlin) vor den umgestürzten Umstürzlern!. "Die Junker, die Pfaffen und Geldsack-Gesellschaft, von der die verunglückte Umsturz-Kampagne veranlasst ward, muß auf anderem Wege zum Ziele zu kommen versuchen." Nun war zu befürchten, dass ein neues Sozialistengesetz aufgelegt wird. Doch ein Teil der bürgerlichen Politiker erkannten durchaus, dass dies kontraproduktiv wirken könnte.
Graf
von Posadowsky Auf der weiter oben im Text abgebildeten Karikatur des "Wahren Jakob" von 1894 zur Grand pas du Finanzreform, ist am unteren Bildrand ein Souffleur aktiv, der dem gutgelaunten und tanzenden Graf von Posadowsky "M i q u e l" zuruft. Wozu soll er - der preußische Finanzminister - dem Staatssekretär des Reichsschatzamtes verhelfen? Soll Posadowsky sich etwa an den rechten Flügel der Nationalliberalen Partei, den Miquel anführte, anlehnen? Oder war es ein Signal für die Einführung weiterer, vor vor allem indirekter Steuern, also ein Hinweis auf die geplante Steuerreform? Sie ist schon in Vorbereitung. Im September 1893 fand in Berlin mit den Verantwortlichen bereits eine mehrtägige Steuerreformkonferenz statt. Man hörte, dass sie nicht so recht vorwärtskommt, weil die Minister Miquel und Posadowsky abweichende Ideen vertreten. (NFP 22.9.1893) Doch mit dieser Art von Nachrichten heißt es vorsichtig umzugehen. Generell erscheint ihr Verhältnis in der Öffentlichkeit mit wechselnden, oftmals irritierenden Aussagen vom Typus, wie sie am 17. August 1893 der "Vorwärts" aus Berlin präsentiert:
Womit er angeblich den Befähigungsnachweis als Staatssekretär erwarb. Ähnlich verquollen porträtiert ihre Beziehung am 12. Juni 1898 (Seite 99) der "Kladderadatsch" im Gedicht "Der gelehrige Schüler":
Die "Freie Presse" aus Wien tratscht am 25. Oktober 1900 herum, dass der Graf und Miquel nicht nur stille Rivalen für das Reichs-Kanzleramt sind, sondern noch als Bülow´s Rivalen gehandelt werden. In dieser Art und Weise hinterlassen die öffentlichen Spiegelungen zum Tandem Miquel-Posadowsky oftmals mehr Unklarheiten als Einsichten. Der intimste Vertraute von Miquels Ministerjahren war Freiherr Octavio von Zedlitz, der 1906/078 aktiv an Sturz von Posadowksy mitwirkte, dem man in der Tat alles Mögliche nachsagen kann; nur das eine nicht, dass er je ein Liberaler gewesen. (Friedegg 1915) Speziell ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind nicht klar erkennbar. Miquel stellt die außen- und innenpolitische Sicherung des Landes über den Ausbau des Verfassungsstaates. Das schließt den Erlass von Repressivgesetzen gegen die Sozialdemokratie ein und orientiert auf eine allgemeine Wahlrechtsreform nach preußischem Vorbild. Es ist das Konzept der Isolation des Gegners und läuft der Strategie von Posadowsky, die sozialdemokratische Bewegung und Partei verfassungsrechtlich in das System einzubinden, entgegen.
Der Scherzname Reichs-Finanzkünstlers ist ironisch gemeint, aber, worauf August Bebel hinwies, durchaus positiv mit seiner Arbeit assoziiert. Immerhin prägte er das System der Steuer- und Abgabenpflichten des deutschen Finanzsystems entscheidend mit. Durch das preußische Kommunalabgabengesetz vom 14. Juli 1893 erhalten die Gemeinden erstmals Grund- und Gebäudesteuer. Er führte 1891/93 in Preußen des Systems der Einkommen-, Gewerbe- und Vermögenssteuer ein. Das Einkommensteuergesetz vom 24. Juni 1891 mit dem progressiven Einkommensteuertarif nennt er Stolz die neue Steuergerechtigkeit. "Dieser sah damals ein steuerfreies Existenzminimum von 900 Mark und in absoluten Beträgen gestufte Steuersätze vor. Als sogenannter Höchststeuersatz stieg die Steuer bei Einkommen über 105.000 Mark in Stufen von 5.000 Mark um je 200 Mark." (Reichsfinanzschwindel 1912) Voraus ging das Gesetz über die Klassen- und klassifizierte Einkommensteuer vom 25. Mai 1873. Die in Preußen 1811 eingeführte Kopfsteuer, die sich zur Klassen- und dann zur Einkommensteuer wandelt. Die weniger bemittelten sozialen Klassen, so lobt der Finanzminister das neue Gesetz, entlastet die abgestufte Einkommen- und Erbschaftssteuer von den Steuerbürden. Der Einkommensteuer-Satz liegt für Jahreseinkommen von 900 bis 1 050 Mark zwischen 0,62 Prozent und für Einkommen über 10 000 Mark bei zu vier Prozent. So schlecht, goutiert ihn am 2. November 1898 August Bebel in einer Rede, war dieser finanzpolitische Weg nicht, als er 1892/93 "die direkten Steuern in vernünftige Richtung" reformierte. Miquel begriff, dass eine scharfe Vermögensdeklaration notwendig war, "wenn die Bourgeoisie den Fiskus nicht allzu arg übers Ohr hauen solle". Dem Gesetz über die Einkommensteuer folgte eine Vorlage zu einem Ergänzungssteuergesetz. Es war eine in Grenzen gehaltene Vermögenssteuer mit Deklarationszwang. "Die Bourgeoisie wird darin durchaus nicht hart angefasst, die Vermögenssteuer ist mit der verglichen, welche manche Schweizer Kantone erheben, außerordentlich niedrig." (August Bebel: Attentate und Sozialdemokratie, 1898, 3) Über ihn kursieren viele Geschichten. In den Jugendjahren von Karl Marx inspiriert, soll er Bauernaufstände organisieren. "Er hat später einmal mir gegenüber erklärt," kramt August Bebel vor dem Reichstag am 14. Februar 1906 (1266) heraus, dies sei "eine Jugendeselei gewesen, und die kann wohl verziehen werden. Aber zehn, zwölf Jahre später war er doch ein gefestigter Mann, war er sogar einer der Führer des Nationalvereins. Es war 1863, als in Preußen der Verfassungskampf mit der gesamten Linken aufs heftigste entbrannt und der damalige Herr v. Bismarck ihr Gegner war. Damals erklärte Herr Miquel in einer Zusammenkunft der Führer des Nationalvereins in Leipzig: nehmen die Hohenzollern nicht Vernunft an, so werden wir ihnen das Schicksal der Bourbonen bereiten, indem wir ihnen die Arbeiter auf den Hals hetzen."
Johannes von Miquel (1829-1901) legt eine Diagonal-Karriere par excellence hin, vom Aufstieg vom Mitglied des Bundes der Kommunisten, über die Ernennung zum preußischen Finanzminister im Jahr 1890 durch Reichskanzler Leo von Caprivi, bis zum Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums ab 1. Juli 1897 bis zur Ablösung am 5. Mai 1901. Und es war dann so, wie es am 1. März 1894 das "Jenaer Volksblatt" im Anschluß an die Beratung des Deutsch-russischen Handels- und Schifffahrtsvertrag im Reichstag expliziert:
Miquel war ein Mann mit Ambitionen. Um 1892, sagt man ihm Avancen als Reichskanzler nach. Als Bernhard von Bülow im Oktober 1900 das Amt übernimmt, vermutet die Leipziger Volkszeitung: "Für den ehemaligen Kommunisten und jetzigen Agrarier Johannes von Miquel, "bedeutet die Ernennung eines verhältnismäßig jungen Mannes [Bülow] zum Staatskanzler eine bittere Enttäuschung" (LVZ 11.10.1900). Im Mai 1901 verliert er den Posten des preußischen Finanzministers, weil er beim Bau des Mittellandkanals sich zusammen mit anderen Konservativen 1899 dazu aufgeschwungen hatte, die Bewilligung der Gelder zu verweigern. Die "personelle Lücke" in der Sammlungsbewegung schliesst sein Nachfolger im Finanzministerium Georg von Rheinbaben (1855-1921).
Im rechten Moment, dies brachte den Erfolg, bewies er die Fähigkeit zum politischen Schwenk. Am 6. März 1890, also vierzehn Tage vor dem Abgang Bismarcks, schildert 2005 Wolfgang J. Mommsen in "War der Kaiser an allem Schuld?" (44) eine typische Szene aus seinem Leben, stellte sich Miquel auf die Seite des Kaisers und gegen die vom Kanzler favorisierte Konfrontationsstrategie. Die Nationalliberalen, die lange Partei "Bismarcks sans phrase" (Max Weber) gewesen, konnten sich inzwischen die Reichseinheit, den inneren Frieden und die soziale Stabilität unter einem Nationalkaisertum Wilhelm II. vorstellen. Im Verhältnis von Reichskanzler Leo von Caprivi und Johannes von Miquel stand es nicht zum Besten. Tief in die politischen Kämpfe der Agrarier gegen die Caprivischen Handelsverträge verstrickt, geriert sich Miquel als Scharfmacher der Rechten. Der Finanzminister Preußens misstraut dem Reichstag, der Demokratie. "Der Reichstag sei unberechenbar .....", äußert er 14. Dezember 1893: "Das allgemeine Wahlrecht sei unmöglich. Die Wahlen brächten immer schlechtere Elemente in den Reichstag." (Frank 1911, 83f.) Er warnte die Parteien davor, sich gegen die Flottenrüstung zu stellen: "Man mag das wünschen oder nicht, und das deutsche Volk - verkennen die Gegner der Flottenvermehrung es nicht! - begreift es heute: Die Konsequenzen einer negativen Haltung würden nicht bloß der Nation schädlich sein, sondern auch der Partei, die diese negative Haltung einnimmt." (RT 13.12.1899, 3333) Am 16. November 1893 beginnt eine die Zukunft der Nation bestimmende Session des Reichstages, die darüber entscheidet, welche Lasten den bereits schwer an den indirekten Steuern tragenden Schichten der Bevölkerung aufgebürdet werden kann. Die Freisinnigen sind gegen die neuen Steuerprojekte und das Zentrum findet beim Volk aufgrund seiner schwankenden Haltung kein Vertrauen. Den geeignetsten Weg zur Ergänzung der Einnahmen des Haushalts, propagiert Johannes von Miquel, besteht in der Einführung beweglicher Steuern in Form von Zuschlägen zu den Verbrauchsabgaben. "Auf die Seufzer der Millionen deutschen Arbeiter, die nicht wissen, wie sie die geringste Mehrausgabe erschwingen sollen, pfeift der Reichs-Finanzkünstler." (Vo 16.11.1893) Wie glücklich musste er sich wähnen, als im November 1893 der "Der Wahre Jacob" für ihn den Rat parat:
So führt die Satirezeitung aus Stuttgart den Johannes von Miquel als Steuereintreiber vor. "Die gefährliche Ladung" besteht aus Geldsäcken, gefüllt durch die Abpressung der Börsen-, Wein- und Tabak-Fabrikatsteuer. Der Cartoon erscheint vier Tage nachdem der Deutsche Reichstag zusammentrat, um darüber zu entscheiden, ob das deutsche Volk für die Militärvorlage zahlen soll. Ist es denn bereit, die weiteren Militärausgaben zu stemmen? Von Ausnahmen abgesehen, sagen die Sozialdemokraten, haben sich "alle Schichte des Volkes in entschiedenster Weise" dagegen ausgesprochen. Deshalb fragt am 16. November 1893 der Vorwärts (Berlin) zu Beginn der langen und folgenschweren Session: "Wird der Reichstag diesmal, die Meinung des deutschen Volkes widerspiegeln?
97 Prozent der Steuerpflichtigen, legt Miquel am 28. November den Abgeordneten zur Beratung des Etat- und Anleihegesetz vor dem Reichstag dar, verfügen in Preußen über ein Einkommen von 900 bis 8500 Mark, nur drei Prozent gelten als Reich. Geschickt überspielte er in seiner Steuerpropaganda, wo die Progression erst richtig einsetzen musste, aber völlig fehlte, nämlich nach oben. "Es wurmt den alten Kommunisten [Miquel] gewissermaßen heute noch," lästert im November 1893 der Vorwärts aus Berlin, "dass mit dem ungerechten aller Steuersysteme in Preußen-Deutschland nicht schon viel, viel früher begonnen worden ist." Zwar lehnt Miquel die Reichseinkommensteuer ab, unterbreitet aber, nach Auskunft der Jenaer Volkszeitung vom 17. Juni 1893, den Vorschlag für die Einführung einer Reichserbschaftssteuer. Aus verfassungsrechtlichen Gründen wird sie nicht verwirklicht. Als Ersatz, was eigentümlich anmutet, beschliesst im Dezember 1893 der Reichstag das Gesetz zur Änderung der Reichsstempelabgabe, vorgelegt vom bayerischen Finanzminister Doktor Freiherr von Riedel und Staatssekretär Doktor Graf von Posadowsky. Wirtschaftspolitisch auf die Interessen der Montanindustrie und Agrarier, parteipolitisch auf Deutschkonservative, Freikonservative und Nationalliberale ausgerichtet, befürwortet Miquel die Sammlungspolitik, als Bündnis der besitzenden Mittelschichten und Agrarier im Sinne staatsgestaltender Kräfte (Mommsen 2005, 66). Höhepunkt der politischen Kämpfe war der Abschluß des russischen Handelsvertrags. Ziel der Sammlungsbewegung war, die Gegensätze in der Zoll- und Agrarpolitik, mit den berühmten Liebesgaben, zwischen den Agrariern und der Schwerindustrie auszutarieren. Innenpolitisch richtet sie sich gegen das Erstarken der Arbeiterbewegung. Ausdruck hierfür die Umsturzvorlage (1894) von Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819-1901) vom 5. Dezember 1894, die aber im Reichstag scheiterte, und die "kleine Umsturzvorlage" (1897).
In Vorbereitung der Reichstagswahlen am 16. Juni 1898 wirbt Miquel für die Sammlungsbewegung. "Der Wahre Jakob" zweifelt 1901 mit den Vokabeln des Cartoons "Miquel-Moor" daran, ob er das Großbürgertum hinter die Welt- und Flottenhochrüstungspolitik versammeln kann. Bei stürmischen Eintritt in die vom "Wahren Jakob" inszenierten Versammlung, ruft er:
Vermutlich dürften daran Adolf Stöcker (Antisemiten, CSP), Gutsbesitzer Karl Freiherr von Gamp-Massaunen, Hermann Paasche, Diederich Hahn, Richard Roesicke, Wilhelm von Kardorff (DRP), Gründer des Centralverband deutscher Industrieller und Graf Hans Wilhelm Alexander von Kanitz-Pondangen (DKP) kein Interesse haben. Diese politische Inkonsistenz korreliert mit anderen Hinweisen zur Miquel`schen Sammlungspolitik von 1897, die besagen, daß diese "keinen Zuklang gefunden". Und überhaupt war sein Ruf in dieser Frage "außerordentlich Unklar." (Röhl 2002, 121) Ganze zwei Jahre sah man den Reichsfinanzkünstler nicht im Haus am Königsplatz. Jetzt drohen Angriffe vom Zentrum auf ihn. Außerdem drohen Die innere Lage in Preußen, die Spannungen zwischen ihm und den Kanzler Hohenlohe zu beherrschen. Der nationalliberale Abgeordnete Karl Sattler (1850-1906) und Ernst Lieber (1838-1902) gaben ihn am 13. Dezember 1899 in der Budgetdebatte des Reichstages die Schuld am Scheitern der "Kanalvorlage". Der gleiche Vorwurf ergeht von Miquel an das Zentrum (RT 13.12.1899, 3334), was ihm Ernst Lieber schwer verübelt, der daraufhin ihre bislang freundschaftliche Beziehung einer gründlichen Prüfung unterzieht. Miquel gibt indessen seine Stellung keineswegs verloren und schwingt sich mit aufgepflanzter Speerspitze zu einer Rede gegen Lieber auf, der sich erlaubt hatte, die Hamburger Kaiser-Rede zu kritisieren. Er hält ihn vor, dass dies bisher nicht üblich und verkündet in einem Atemzug die einzig gültige Wahrheit:
Lieber fährt es Mitten ins Herz, verdächtigt er ihn doch bei seiner Majestät! Vor dem Returnschlag, große Ruhe im Plenarsaal. Er ".... replicirte ruhig aber wirksam und wies nach, daß Miquel, im Hintergrund der Ereignisse wühlend, die Stellung des Centrums im Reichstag und gegenüber der Krone zu untergraben suchte." Jetzt geriert sich Miquel fragil. Will er ihn als einen Mann mit wechselnder Meinung hinstellen? Besteht darin der ganze Zweck der Attacke? Die Anspielung auf die kommunistische Vergangenheit fasst er als einen Angriff seine Ehre auf. So nimmt die Antwort den Charakter eines "Selbstnachrufs" (Vorwärts, Berlin) an:
Ob die alten Geschichten ihre gewünschte Wirkung entfalten, ist ungewiss. Sein Kontrahent will sich darauf nicht verlassen und setzt die Fehlersuche fort. Er empört sich darüber, dass er "öffentlich alle politischen Parteien für überlebt erklärte" und der Verabschiedung des Flottengesetzes 1898 mittels des "Deckungsparagraphen" Schwierigkeiten bereitete. Das war unverantwortlich, weil es die Reichsverdrossenheit schürt. Das "Neue Wiener Tagblatt" bewundert wie Miquel die Klaviatur der Machtpolitik beherrscht, erschien er doch "wiedermal als Mann der Vermittlung, der in allen schwierigen Lebenslagen zu gebrauchen sei und der für die Durchsetzung der Flottenpläne nicht entbehrt werden könne." "Auffallend war," registriert das Neue Wiener Journal im Tagesbericht, "das Fürst Hohenlohe und Staatssekretär Posadowsky Miquel sichtlich ignorirten." "Ja, Posadowsky unterließ es auch, nur mit einem Worte in seiner Rede den Finanzminister, der sich unterdessen zurückgezogen hatte, zu vertheidigen." "Moralisch ist Miquels Stellung nicht mehr haltbar", tut am nächsten Tag der Vorwärts (Berlin) kund. Nach der Umbildung der preußischen Regierung im Mai 1901 gelang es dem Reichkanzler die Politik zwischen Reichsregierung und preußischer Regierung deutlich besser aufeinander abzustimmen. "Bei dem Revirement von 1901 brachte Bülow den Vizepräsidenten des Staatsministerium Miquel, zu Fall" (Fesser 1991, 63).
Den "Kampf um die Schiffe" wollen sie unbedingt zu ihren Gunsten entscheiden. Der Reichskanzler Bernhard von Bülow, Staatsekretär für Auswärtiges Adolf Marschall von Bieberstein, Admiral und Staatssekretär des Reichsmarineamtes Friedrich Hollmann, Staatssekretär des Innern Karl Heinrich von Boetticher, preußischer Justizminister Karl Heinrich Schönstedt und Staatssekretär des Reichsjustizamtes Arnold Nieberding erscheinen
zur Reichstagssitzung. Der "Schatzsekretär", wie ihn Eugen Richter vorzugweise nannte, nahm ebenfalls teil, und so lief für Posadowsky am zweiten Tag der Beratung darauf hinaus, sich seinen Kollegen anzuschließen und die Finanzlage des Reiches zu beschönigen. Außer der Aktion, im Amtsdeutsch "Verwaltung der kaiserlichen Marine (Anträge der Budgetkommission Nummer 714 der Anlage)" geannt, steht auf der Agenda des Hohen Hauses ein Antrag von Doktor Ernst Lieber und die Beratung des Reichshaushalts für 1897/98. Die Debatte beginnt. Der Abgeordnete für Montabauer Doktor Ernst Lieber und Mitglied der Zentrum-Partei befaßt sich mit der Flottenvermehrung. Abgesehen von den bereits vorhandenen beziehungsweise im Bau befindlichen Schiffen, soll die Flotte vom Etatsjahr 1897/98 bis einschließlich 1901 wie folgt erweitert werden: 5 Panzerschiffe (erster Klasse), 2 Monitors, 2 schwimmennde Batterien, 10 Kreuzer, 5 Avisos, 2 Kanonenboote und 22 Torpedofahrzeuge. (RT 18.3.1897, 5141)
Nach ihm spricht spricht Reichskanzler Doktor Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819-1901). Die Flotte muß im vitalen Interessen Deutschlands ausgebaut werden. Denn Macht und Ansehen sind eine unabdingbare Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung eines Volkes. Ostentativ stellt er in den Raum: "Die deutsche Flotte ist das Ergebnis der politischen Entwicklung der deutschen Nation". So denkt mittlerweile die Mehrheit des Hohen Hauses. Zustimmung ist ihm also gewiss und sichtlichen Stolz auslöst. Die Grundsätze sind festgeklopft. Einer verdient noch besondere Erwähnung: "Der Export spielt jetzt für das wirtschaftliche Leben der Nation eine bedeutsame Rolle. Dieser Thatsache müssen wir Rechnung tragen, einerseits, indem wir uns bemühen, den Export auf friedlichem Wege zu schützen, andererseits, indem wir Vorsorge treffen, daß es niemand als eine leichte Aufgabe betrachten kann, die freie Fahrt unsere Schiffe zu stören." (Protokoll VS 19.3.1897) Dann begibt sich der Staatssekretär des Äußeren Adolf Marschall von Bieberstein an den Katheder und verlegt sich darauf, die Erweiterung der Flotte mit dem Schutz der Kolonien zu begründen. Das nimmt der Abgeordnete des Zentrums Richard Müller (1851-1931) aus Fulda nicht einfach hin, sondern weist nach, dass der Handel dort am besten gedeiht, wo die deutsche Flotte nicht vertreten ist. (Vgl. VS 19.3.1897) Umringt von einer dichten Schar von Zuhörern, die mit "musterhafter Aufmerksamkeit" seinen Worten folgen, spricht Posadowsky am zweiten Tag vom Platz. Die Erwartungen an ihn waren hoch. Doch was er zum Marine-Etat von sich gab, war enttäuschend. Die Leipziger Volkszeitung charakterisierte sie als eine "unendliche trockene" "zahlenstarrende Rede" (LVZ 19.03.1897), woran die Redaktion schnell das Interesse verlor. So schnell, ist es nicht ratsam, das Terrain zu verlassen. Denn was passiert, war bislang nicht klar beantwortet. Entgegen früheren Vorsätzen stritt er nicht gegen, sondern für die weitere Verschuldung des Staatshaushalts. Der Koordinatenursprung dafür liegt in den Worten maßgeblicher Vertreter der Reichsleitung, die in "nahezu exakter Weise nachgewiesen", "daß die Forderungen der Marine, wie sie im Etat niedergelegt sind, in der That notwendige sind, um die Marine auf ihrer vollen technischen Höhe zu halten." (Posa RT 19.03.1897, 5166) Die Budgetkommission des Reichstags strich, was nicht unbegründet war, in Sorge darüber, dass die Schuldenlast zu schnell steigt, im Haushaltsentwurf herum. Im Etat 1896/97 waren 26 1/2 Millionen Mark an Anleihen eingestellt. Das Schuldenkonto des Etats 1897/98 enthielt 56 3/4 Millionen Mark plus 44 1/3 Millionen Mark aus dem Nachtragsetat zur Deckung von Reservebeständen. Bei Annahme der M a r i n e f o r d e r u n g, rechnet er vor, würden beide Etats mit 127 3/4 Millionen Mark belastet. Doch man muss, was zugleich sein Einwand gegen die Vorgehensweise der Budgetkommission ist, auch berücksichtigen, in welchen Umfang Schulden getilgt werden. Wir hatten uns doch seit Anfang 1896 auf den "löblichen Weg der Schuldentilgung begeben". Darauf folgt ein mit vielen Details gespickter Ausblick auf das kommende Jahr, dessen Fazit lautet, "die Reichsfinanzverwaltung und das Hohe Haus können sich bemühen die Schuldentitel zu ermäßigen, aber ganz ohne Schulden auszukommen, das ist zur Zeit unbedingt ausgeschlossen." Jetzt herrscht der Leitspruch:
An die Verantwortlichen und Entscheidungsträger ergeht vom Reichsschatzsekretär der Rat zur Tolerierung der Staatsverschuldung, denn "darüber muss sich jeder Schatzsekretär klar sein, und ebenso das Hohe Haus, dass wir bei der jetzigen Gestaltung unserer Einnahmequellen auf eine Belastung des Schuldtitels nicht ganz verzichten können, wenn wir nicht erheblich neue Steuern bewilligen." (5166) "Aus allen diesen Gründen möchte ich Sie bitten, ....", endet Posadowsky`s Epilog zu Verschuldungsfrage, "in eine nochmalige Prüfung der Beschlüsse. Ihrer Kommission einzutreten, und die M a r i n e f o r d e r u n g zu bewilligen, die die verbündeten Regierungen von Ihnen erbitten. "(Posa RT 19.3.1897, 5165 bis 5167) Ohne Schulden, lautet das Credo, läuft nichts.
Staatssekretär Revirement im Sommer 1897 zurück Oft überlappt und durchdrungen von Macht- und Kariereambitionen, begleitet von Intrigen, Kabalen und Rivalitäten, erfasst Mitte der 90er Jahre die Reichsleitung und das Land Preußen eine tiefe politische Führungskrise. "Der Lucanus geht um", hieß es - nach dem Abschied von Caprivi, von Heyden und Dr. von Schelling - im Herbst 1897. Sie beginnt 1892 mit dem Streit um das Volksschulgesetz an und endete mit der Einsetzung von Bernhard von Bülow am 26. Juni 1897 zum stellvertretenden Staatssekretär des Auswärtigen und drauffolgenden 20. Oktober zum Staatssekretär sowie Ernennung zum Preußischen Staatsminister. Zeitlich etwa parallel erfolgte die Ablösung von Adolf Marschall von Bieberstein als Staatssekretär des Auswärtigen und Karl Heinrich von Boetticher im Reichsamt des Innern, das Graf Arthur von Posadowsky-Wehner übernimmt. An der Oberfläche erscheint die Führungskrise als Kanzler-, Staatssekretärs- und Ministerkrise, hatte aber eigentlich systemische Ursachen: Im schwierigen Übergang vom Agrar- zum Industriestaat ringen die verschiedenen sozialen Klassen und Machtgruppen um Positionen, Vorteile, Zölle und staatliche Subventionen. (Siehe Caprivischen Handelsverträge) Vor allem anderen
fürchtet die Reichsleitung die Unwägbarkeiten um Mehrheiten
im Reichstag zur Finanzierung der Flottenrüstung. Sie muss, fordern
ihre Exponenten Generalfeldmarschall Alfred von Waldersee, Alfred von
Tirpitz oder Johannes von Miquel, gesichert werden. Die "Umsturzvorlage" von 1894 scheitert. Die sozialdemokratische Bewegung erstarkt und die Reichsleitung ist sich nicht einig wie darauf reagieren: Vielleicht mit Konfrontation oder einem scharfen ideologischen Kurs, bei gegebenem Anlass mit Repressionen, oder eher durch Förderung der Anpassung und Integration in das System? Deutsche Marineeinheiten besetzen am 14. November Kiautschou (Jiaozhou). Bernhard von Bülow verheißt dem Volk, was antienglische Nuancen impliziert, am 6. Dezember 1897 im Reichstag einen "Platz an der Sonne". - Ist das politische Personal der Reichsleitung fähig die Expansions- und Weltpolitik zu führen? "Weltwirtschaftliche Ideengänge lagen diesem Zeitalter nicht ....", bezeugt - ausgestattet mit persönlichen Erfahrungen zur Tätigkeit in den deutschen Kolonien - Paul Rohrbach (1869-1956). Und über Otto von Bismarck heißt es: "Er ist nicht dazu fortgeschritten, sich Zahlenreihen der wirtschaftlichen Statistik als entscheidende Grundlage staatspolitischer Erwägungen zu vergegenwärtigen." (Rohrbach 1915, 32) All dies bricht sich im politischen Tätigkeitsfeld von Graf von Posadowsky. Indes welche persönliche Rolle ihm zugedacht, resümiert das "Prager Tagblatt" am 30. Juni 1897, "das Alles ist das Geheimnis der gegenwärtigen Lage". Ankündigen tut sich Führungskrise mit den Konflikten in der Schulpolitik. Rudolf Bennigsen (1824-1902) wandte sich gegen eine Rekonfessionalisierung. Kaiser Wilhelm II. schwenkte auf die Vorstellungen der Nationalliberalen in der Kronratssitzung am 17. März 1892 ein. Der Reichskanzler Leo von Caprivi musste die Vorlage für den Reichstag zurückziehen und reagierte verstört. Wer wohl, hat hier die Macht? In den Entscheidungen mischten Kräfte mit die verfassungsrechtlich nicht legitimiert. Caprivi`s Kanzlerschaft wackelt wegen mangelnder Führung im Inneren und den Intrigen der junkerlichen Kreise. Sein Sturz, von der Liebenberger Tafel beschlossen, am 26. Oktober 1894, und die Einsetzung von Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst drei Tage später, ist ein Triumph über die Politik des Ausgleichs und seiner Handespolitik. Gibt es einen Plan? Philipp Graf zu Eulenburg (1847-1921) legt am 20. März 1894 eine Denkschrift zur Umgestaltung der deutschen Regierung vor, die er in den nächsten drei Jahren hartnäckig verfolgt. (Vgl. Röhl 2002, 55 ff.) Doch werden seine ab 1896 öffentlichen Verwicklungen wegen seiner homosexuellen Neigungen zu einer Belastung. Bernhard von Bülow soll in Vorbereitung auf die Kanzlerschaft das Auswärtige übernehmen. Johannes von Miquel darf als "Bindeglied zwischen der Regierung und den rabiat gewordenen Agrariern" bleiben. Staatssekretär des Auswärtigen Adolf Marschall von Bieberstein (1842-1912) erscheint dem Kreis um Philipp von Eulenburg nach seinem Zusammenstoß anlässlich des Bismarck-Besuchs Ende Januar 1894 in Berlin mit Kuno Moltke und August von Eulenburg nicht mehr tragfähig. Als neuer Reichskanzler ist Botho zu Eulenburg (1831-1912), seit 1893 preußischer Innenminister, vorgesehen. Nach einem erneuten Zwischenfall im Februar 1895 zwischen ihm und der kaiserlichen Umgebung, fordert Philipp zu Eulenburg die Entlassung sowohl von Marschall und Julius Holstein (1837-1909). Ausgelöst durch Indiskretionen im November 1895 gegenüber Mitgliedern der Reichsleitung im Zusammenhang mit der Reform des Militärstrafrechts, tritt Ernst von Köller (1841-1928) im Dezember 1895 vom Posten des preußischen Innenministers zurück. Philipp Graf zu Eulenburg gibt sich bestürzt, dass das preußische Staatsministerium die "Allüren eines Ministeriums parlamentarischer Staaten" annimmt. Als Vertrauter des Kaisers empfiehlt er die Rädelsführer der "Ministerrevolte" Karl Heinrich Boetticher (1833-1907) und Adolf Marschall von Bieberstein (1842-1912) zum geeigneten Zeitpunkt zu entfernen. Die Pläne zur Umgestaltung der Regierung mussten im März 1896 aufgrund der "Verschwörung" von Holstein, Marschall und Bronsart über den Haufen geworfen werden, weil sie etwas zu verwegen, die populäre Militärstrafprozessordnung dazu benutzen wollten, um Hohenlohe zum solidarischen Auftreten mit dem Staatsministerium gegen den Kaiser zu zwingen. (Vgl. Röhl 2002, 57)
Graf von Posadowsky soll bereits im kommenden Frühjahr Heinrich von Boetticher, 1880 bis Juli 1897 Staatssekretär Reichsamt des Innern und Unterstützer der Caprivischen Handelsverträge, ersetzen. Überwiegend herrscht Optimismus, daß er der richtige Mann ist. "Die politischen und wirthschaftlichen Anschauungen des Grafen Posadowsky-Wehner passen in den allerneuesten Kurs durchaus hinein," präsentiert Mitte 1897 in sarkastischer Tonlage die Berliner Zeitung ihr Urteil. "War der Graf bisher schon an aller reaktionären Regierungspolitik schaffend betheiligt, hat er seinen "guten Willen", dem Volke mehr Steuern aufzuhelfen, mehrfach bewährt." (Vorwärts 3.Juli 1897) Das Personalkarussell der Reichsleitung dreht sich. Entlassen wird im Dezember 1895 der preußische Innenminister Ernst von Köller, am 14. August 1896 der preußische Kriegsminister Walther Bronsart von Schellendorff und im April 1897 Admiral Friedrich Hollmann. Im Juli 1897 scheidet Adolf von Marschall von Bieberstein aus seinem Amt. Sein Nachfolger ist Bernhard von Bülow, zunächst am 26. Juni 1897 zunächst als stellvertretender und ab 20. Oktober als Staatssekretär des Auswärtigen und Preußischer Staatsminister. Am 6. Dezember 1896 spricht er zum ersten Mal vor dem Reichstag. (Fesser 1991, 41, 44) Mit der Berufung von Bülow zum Staatssekretär des Äußeren im Oktober 1897 war die Kamarilla in ihrem Bestreben einen großen Schritt weitergekommen, das "persönliche Regiment" Wilhelm II. auf eine verlässliche Basis zu stellen (Mommsen 2005, 92). Über die Ablösung von Doktor Hans Freiherr von Berlepsch im Juni 1896 triumphiert der Geschäftsführer des Centralverbandes deutscher Industrieller (CDI) Henry Axel Bück. Daß wir ihn endlich "kleinbekommen haben, hat mich mit Befriedigung erfüllt . Ich nehme keinen Anstand zu erklären, daß die Ablehnung des im Übrigen ganz vernünftigen Handelskammergesetzes hauptsächlich gegen die weiteren Pläne des Herrn von Berlepsch gerichtet gewesen ist, und zwar hauptsächlich gegen die von ihn geplante Organisation von Arbeitern." (Hoch 25.2.1927, 9249) Alfred von Tirpitz steht ab 1897 dem Reichsmarineamt als Staatssekretär vor. Johannes von Miquel wird 1897 Vizepräsident des Staatsministeriums. Im selben Jahr löst Max von Thielmann (1846-1929) Posadowsky im Reichsschatzamt an, der wiederum im Juli 1897 das Reichsamt des Inneren von Karl Heinrich Boetticher übernimmt. Johannes Miquel verliert 1901 den Posten des Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums. Georg Freiherr von Rheinbaben wird Finanzminister. Theodor Möller, Mitglied der Nationalliberalen Partei und Vorstandsmitglied des Centralverbands deutscher Industrieller, übernimmt das Handelsministerium. Generalleutnant Victor von Podbielsky wird Landwirtschaftsminister.
Staatssekretär des Innern zurück Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe beehrt sich
dem Reichstag mitzuteilen, "daß Seine Majestät der Kaiser mittelst Allerhöchster Ordres vom heutigen Tage geruht haben, dem Staatssekretär des Innern, Staatsminister Dr. von Boetticher die nachgesuchte Dienstentlassung zu ertheilen und denselben von der allgemeinen Stellvertretung des Reichskanzlers zu entbinden, sowie den bisherigen
und den Generallieutenant z. D. von Podbielski zum Staatssekretär des Reichspostamts zu ernennen." (Protokoll der Reichstagssitzung vom 30. November 1897)
[Die Institution zurück] "Das Reichsamt des Innern hatte seit 1879 immer mehr Aufgaben an sich gezogen: Im Frühjahr 1894 war von der I. Abteilung eine neue III. Abteilung für wirtschaftliche Fragen abgezweigt worden, die nach sechs Jahren wiederum geteilt wurde, so dass seit Mai 1900 vier Abteilungen bestanden. Die Anzahl der Direktoren stieg von einem im Jahr 1889/92 auf drei im Jahr 1900, die der Vortragenden Räte von zehn auf sechzehn." Für die sozialpolitische Materie war die "II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten" zuständig. 1891 wurde sie im "Handbuch für das Deutsche Reich" folgendermassen beschrieben: "Der zweiten Abteilung liegt die Bearbeitung derjenigen Angelegenheiten ob, welche sich auf die Fürsorge für die arbeitenden Klassen (Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung, Arbeiterschutz, Sonntagsruhe etc.) beziehen. Dieselbe bearbeitet außerdem die gewerblichen Angelegenheiten, einschließlich des Versicherungswesens, die Freizügigkeitssachen und das Armenwesen." Unter der Führung von Graf Posadowsky wird das Reichsamt des Inneren zum Vorreiter der sozialpolitischen Gesetzgebung. (Siehe Florian Tennstedt "Ministerialbürokratie in Preußen und Reich - ihr Anteil bei der Grundlegung der sozialpolitischen Gesetzgebung von 1869 bis 1911. 2021, 49f.) [Nächste Aufgaben zurück] Die Wahlen zum 10. Deutschen Reichstag am 16. Juni 1898 lassen ihre ersten Aufgaben fallen. In Vorbereitung darauf ist ein hartes Ringen, um die Festlegung der Friedenspräsensstärke des Heeres zu erwarten. Fragen der Reichsbank-Privilegien sind zu klären. Es beginnen die Arbeiten am Zollgesetz und zum Zolltarif. Bei der Ausrichtung der Handelspolitik sind die Interessen von Industrie, Agrarier, Handels- und Bankkapital auszutarieren. Wenig hilfreich bei der Lösung des Konflikts zwischen Agrariern und der Industrie war, dass 1903 im konservativ-agrarischen Flügel der Reichstagsfraktion der Anteil der Rittergutsbesitzer- und Gutsbesitzer mit 35,4 Prozent bedeutend höher als der Anteil der Unternehmer und Selbständige mit 33,3 Prozent lag (Hofmann 1993, 45). Die Erwartungen an die Politik zum Zollgesetz und Zolltarif artikuliert im Dezember 1897 (152) für die Deutschkonservativen der Reichstagsabgeordnete Karl von Leipziger (1848-1924):
Die Ausgaben für die Flottenrüstung belasten den Staatshaushalt. Die Einführung der Schaumweinsteuer oder die Erhöhung der Reichsstempelabgaben reichen zur Deckung des Finanzbedarfs nicht aus. Die Schuldenlast des Staates steigt (Eheberg 2010, 13) und die Steuererhöhungs-Debatte entbrennt von Neuem.
1899 erwirtschaftet das Deutsche Reich mit dem Zoll für Schaumweine 2 140 000 Mark. Das ist zu wenig, sagen am 26. Mai 1900 der Regierungsrat und Professor für Staatswissenschaften an der Technischen Hochschule zu Berlin Doktor phil. Hermann Paasche(*1851) und Bittsteller im Bericht der Kommission für den Reichshaushalts-Etat, weshalb er von 80 Mark in Zukunft auf 120 Mark pro 100 Kilogramm erhöht werden soll. Hierbei handelt es sich um einen Luxusartikel, der eine hohe Besteuerung verträgt. Und wenn der Verbrauch nicht wesentlich zurückgeht, erhöhen sich hierdurch voraussichtlich die Einnahmen um etwa eine Millionen Mark. Andere Akteure denken ebenfalls über neue Quellen für Steuereinnahmen nach. Wäre es nicht möglich, dass die Deutschen beim Genuß von Bier und Tabak für die Flottenrüstung etwas abzwacken? Ernst Hasse (1835-1917), ein Nationalliberaler, der den Wahlkreis Leipzig Stadt im Reichstag vertritt, hat bei der Berechnung, so vermutet Eugen Richter, wahrscheinlich beim Verbrauch die Säuglinge einberechnet. Adolph Wagner (1835-1917), Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler, ist der derselben Meinung, Tabak und Bier sind noch nicht genügend besteuert. Erneut gelangt die Einführung der Erbschaftssteuer auf die Tagesordnung. Das geht nur, erklärt am 14. Dezember 1899 (3363) im Reichstag Eugen Richter, Abgeordneter der Fortschrittlichen Volkspartei (FVp), wenn sie in den Einzelstaaten abgeschafft wird. An die damit verbundenen Schwierigkeiten, mag keiner denken, weshalb ihre Einführung unrealistisch ist. Am 13. Dezember 1897 (176) verspricht Posadowsky vor dem Reichstag, "dass Wohl der arbeitenden Klasse weiter zu fördern", "soweit es sich um berechtigte Forderungen für die sittliche und körperliche Gesundheit der Arbeiter handelt." Das wird nicht einfach einzulösen, denn die Phase der wirtschaftlichen Prosperität, erklärt am 10. Dezember 1897 August Bebel im Reichstag unmissverständlich, ist zu Ende. Es folgt die Periode der Krise und Entlassung von Arbeitern, was weitreichende Folgen für den Staat hat. Denn das Reichsbudget baut sich zu neun Zehntel auf den Einnahmen aus Konsumartikeln und den indirekten Steuern, wie Branntwein- (119 Millionen), Zucker- (90 Millionen) und Salzsteuer (48 Millionen), auf. Hinzukommen die Einnahmen aus dem Getreide- (142 Millionen), Petroleum- (59 Millionen) und Kaffeezoll (52 Millionen Mark - alles 1895). Es liegt auf der Hand, dass bei einem allgemein schlechteren Geschäftsgang, die Konsumfähigkeit der Massen abnimmt. Aber die besitzenden Klassen greifen, um den Patriotismus zu nähren, ungern in die eigenen Beutel.
[Reformen zurück] Auf den Einkommen Rente, Gewinn und Lohn erhebt sich, zeigt Adam Smith in "Der Wohlstand der Nationen" (1776), die Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft mit Grundbesitzer, Unternehmer und Lohnempfänger. Das ist die ökonomische Dimension (Struktur). Ebenso wichtig war die Entwicklung der Gesellschaftsmoral. Je tiefer und nachhaltiger die soziale Frage in das politische Bewusstsein der Gesellschaft dringt, umso mehr musste der Arbeitslohn im weit höherem Maße als in vorangegangen Epochen der Gleichheit und Gerechtigkeit Rechnung tragen. Allerdings ermöglicht dies nicht zwangsläufig die Wende zu einer progressiven Sozialpolitik. Erst muss sich in den Klassen, Schichten und Gruppen der Gesellschaft ein soziales Bewusstsein von ihrer materiell-ökonomischen Lage bilden, aus der sich dann Ideen zur Praxis der modernen Sozialpolitik herauskristallisieren. Eine soziale und bedürfnisorientierte Existenzweise der produktiven Klassen erforderte einen allgemein anerkannten Begriff der sozialen Sittlichkeit, der Eingang in die Sozial- und Gesundheitsgesetzgebung des Staates findet. Als Posadowsky in die Reichsleitung eintritt, ist längst ausgestritten, dass das Laissez-faire-Prinzip und die unsichtbare Hand der deutschen Sozialpolitik nicht weiterhelfen kann. Er setzt den deutschen Weg der Sozialpolitik fort. Der Staatssekretär des Reichsschatzamtes und des Innern orientiert sich an den Bedürfnissen, Interessen und Lebenslagen der sozialen Klassen, Schichten und Gruppen, setzt das Prinzip der koordinierten Wirtschaft-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik fort. Im Zuge weiterer Planungen und Initiativen erfolgt der weitere Ausbau der staatlichen Sozialgesetzgebung. Begonnen hatte sie längst vor seiner Zeit. Einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Anerkennung der Ansprüche der Arbeiter, Arbeiterinnen und (mit-) arbeitenden Kindern auf Fürsorge durch den Staat, stellt die Kaiserliche Sozialbotschaft dar, die am 17. November 1881 von Wilhelm I. (1797-1888) ergeht. Damit begann ein notwendiger, durch den Staat formierter und kontrollierter Prozess der Vergesellschaftung Arbeit, der darauf gerichtet, die Gesundheitslage der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern. "Mit seinem neuen Kurs im Reichsamt des Inneren und der Unterstützung von Seiten des Zentrums", resümiert Joachim Bahlcke über seine Tätigkeit in den ersten Jahren, "begann Posadowsky eine Reihe durchgreifender sozialpolitischer Reformen." Zu den bedeutenden zählen (vgl. Gladen 1974, u.a. 85f.): Die einheitliche Festlegung der Invalidenrenten im Juli 1899 mit Zustimmung der SPD-Reichstagsabgeordneten. Gesetz, betreffend die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten vom 30. Juni 1900 (Reichsseuchengesetz) Einführung obligatorischer
Gewerbegerichte zum 1. Juni 1901 Gesetz, betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben, vom 30. März 1903. Gesetz, betreffend
der Kaufmannsgerichte vom 6. Juli 1904 Finanzielle Förderung des Baus von Arbeiterwohnungen Das erweiterte Kinderschutzgesetz vom 30. März 1903. Verbesserung des Krankenversicherungsgesetzes zum 2. Mai 1903 durch Verlängerung der Zahlung des Krankengeldes von 13 auf 26 Wochen. Gesetz, betreffend Kaufmannsgerichte vom 6. Juli 1904 Novelle zum preußischen Bergbaugesetz vom 14. Juli 1905.
Die SPD trägt von 1900 bis 1903 die Reformen zur Sozialversicherung, Regelung der Arbeitszeit, Verbot der Kinderarbeit und Verbesserung des Mutterschutzes mit. Inzwischen verfügt Deutschland über ein umfangreiches Arbeiterschutz- und Sozialgesetzgebungs-Werk. Posadowsky hält am 13. Februar 1897 (173) den Sozialdemokraten im Reichstag vor: "Es ist noch keinem Staat in der Welt gelungen, uns das nachzumachen, was wir für die arbeitenden Klassen gethan haben. (Lebhafter Beifall.)" Natürlich gab es in der Schweiz und Österreich bereits vor der Berlepschen Arbeiterschutzgesetzgebung entsprechende sozialgesetzgebende Initiativen. Selbst Russland kannte den gesetzlichen Arbeitsschutz für Arbeiter. Arthur Raffalovich (1854-1921) referiert im Oktober 1897 in Brüssel auf dem Internationalen Kongress für Arbeitergesetzgebung vor einem auserlesenen wissenschaftlichen Publikum, besetzt mit Gustav Schmoller, von Berlepsch, Werner Sombart und anderen namhaften Persönlichkeiten, über die Arbeiterschutzgesetze für Frauen und Kinder in Russland. Ob Deutschland international gesehen "Vorreiter oder Nachahmer"? der Sozialpolitik war, beantwortet Wilfried Rudloff in "Schlaglichter auf Grundfragen ", Mainz 2021, Seite 311 bis 368.
Ist er ein Bremser? zurück Über das Reformtempo kommt Unzufriedenheit auf. Noch 1932 flirrt im Redaktionsgedächtnis der Frankfurter Zeitung umher, dass der neue Staatssekretär damals zunächst einer temporeichen Fortführung der Sozialpolitik und Erweiterung des Koalitionsrechts kühl gegenüberstand. Seinerzeit war dies ein in der Öffentlichkeit präsentes Thema. So berichtet am 18. Januar 1898 das Morgenblatt der Schlesischen Zeitung: "Der Staatssekretär des Innern Dr. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner hatte sich einerseits dafür ausgesprochen, nicht fortgesetzt neue sozialpolitische Gesetze zu planen, sondern zunächst einmal die vorhandenen weiter auszubauen und in ihrem Wirkungskreis auszudehnen; andererseits hatte er gegenüber entsprechender Kritik betont, daß ein Stillstand in der Förderung des Wohls der arbeitenden Klassen nicht intendiert sei." Trotzdem erscheint seine Berufung als Staatssekretär des Inneren immer wieder
Etwa in der Einschätzung des Znaimer Wochenblatts von 1897 und erneute 2007 in "Zwischen Burgfrieden und Klassenkampf" von Carsten Schmid.
Wollte er, fragt 1914 Hermann Molkenbuhr (1851-1927), mit der Sozialpolitik halt machen? Und fährt dann fort: Ich erinnere nur - und zwar möchte ich namentlich den jüngeren Kollegen es als amüsante Lektüre empfehlen - an die erste Rede, die der Herr Staatssekretär Graf Posadowsky als Staatssekretär des Reichsamts des Innern hielt. "Damals wollte er auch haltmachen mit der Sozialreform. Gerade der Mann, der damals als das größte Hindernis der Sozialreform betrachtet wurde, kam nachher so weit, daß er beim Zentralverband deutscher Industrieller in Verdacht geriet, ein halber Sozialdemokrat zu sein. (Heiterkeit.)" (Molkenbuhr RT, 30. 01.1914, 6896) Der Reichstag diskutiert über das Tempo der Sozialgesetzgebung, zum Beispiel am 5. Februar 1906 Wilhelm von Kardorff, Deutsche Reichspartei und Gründer des Centralverband deutscher Industrielle: "Ehe wir daran denken, die soziale Gesetzgebung weiter auszudehnen, sollten wir uns vielmehr einmal jetzt mit einer Revision derselben beschäftigen und die Mängel zu erkennen suchen, die offenbar in sehr vielen Punkten unserer sozialen Gesetzgebung hervorgetreten sind." War Posadowsky ein Bremser? Wer löste die Bremsspuren in der Sozialpolitik aus? War es Posadowsky? Eine solide Unfallaufnahme und -forschung könnte vielleicht helfen. Der Beschuldigte gibt am 13. Dezember 1897 vor dem Reichstag dazu folgende Erklärung ab:
Eine andere Ursache für die amtliche Geschwindigkeitsbegrenzung der Sozialpolitik ortet 1900 (134) der SPD-Reichstagsabgeordneter Ignaz Auer (1846-1907):
Das Reformtempo der Sozialgesetzgebung bestimmen politische Präferenzen, verwaltungsorganisatorische Gebote und Notwendigkeiten, erforderliche finanzielle und materielle Ressourcen sowie Optionen zur Implantierung sozialer Organisationsformen. So wünschenswert, zum Beispiel, die Witwen- und Waisenversicherung ist, laut Berufsstatistik von 14. Juni 1895 können immerhin 7,7 Millionen männliche Arbeitskräfte hierfür einen Anspruch geltend machen, sollte demgegenüber die Reform des Krankenversicherungs-gesetzes den Vorrang erhalten. Denn zunächst müssen wir, legt der Staatssekretär des Inneren am 12. Januar 1900 dem Reichstag dar, für den Arbeiter selbst Sorge tragen, weil er die Verpflichtung hat, durch seine Arbeit, sich und die Familie zu erhalten. Folglich muss der Wunsch nach einer Witwen- und Waisenversicherung zurückstehen. Den Vorrang soll die Verlängerung der Krankenversicherung von 13 auf 26 Wochen erhalten. Sie füllt dann die unheilvolle Lücke zwischen der Beendigung der Krankenversicherung und dem Beginn der Invalidenrente. "Das ist die verhängnisvolle Zeit .," "wo in der Tat einer Arbeiterfamilie, die vollkommen subsistenzlos wird, verelenden kann und vielleicht ihr bisschen Hausrat verschleudern und die Ersparnisse, die sie gesammelt hat, aufzehren muß, um überhaupt leben zu können." Es ist eben "eine einfache Frage der finanziellen Leistungsfähigkeit, weshalb zunächst die Reform der drei großen Versicherungsgesetze abschließen sollten. (Posa RT 12.01.1900, 3491) Am Tempo der Sozialgesetzgebung drehen noch andere mit. Doktor Friedrich Naumann (1860-1919) wirft am 7. April 1907 den Parteien im Reichstag die "Unfruchtbarmachung der deutschen Sozialgesetzgebung" vor. Zu diesem Zeitpunkt bereitet man den Abgang von Graf von Posadowsky aus seinen Amt vor. Aber nicht ihn nimmt der Liberale ins Visier, sondern den Bundesrat. Obwohl für eine Reihe sozialpolitischer Forderungen im Reichstag eine Majorität vorhanden, verschleppte er immer mal wieder die Entscheidung. Zur Lösung des Problems schlägt Naumann die Einrichtung eines "Industrieparlamentarismus" vor. Posadowsky sah darin ein bemerkenswertes "philosophisches Programm". Seitens der SPD fiel die Reaktion darauf weniger positiv aus, erkannte sie doch darin eher den Versuch, die Verhältnisse im bürgerlichen Staat weiter zu idealisieren. Der Referent, kommentiert der "Vorwärts" (Berlin), schien nicht zu merken, dass er eine Kritik an den bürgerlichen Parteien vortrug, die sich in Mehrheit vor dem Bundesrat duckte, und sich diese Verschleppung gefallen lassen, weil sie unter den Einfluss der Großindustrie und des Kapitalismus stehen.
Was wollte und konnte er entscheiden? zurück Das Reichsamt des Inneren ist nicht wie das preußische Ministerium des Innern eine verwaltende Behörde, sondern ein Ressort für die Vorbereitung von Gesetzen und die Überwachung ihrer Ausführung. Im politischen Feld des Reichstages, und davon stark nach unten abgestuft in der Reichsleitung und im Bundesrat, verfügt der Staatssekretär des Innern über Definitionsmacht zu handels- und sozialpolitischen Zielen und ihre Präferenzen. Ihre öffentliche Form der Darstellung, speziell der gesellschaftlichen, entwicklungsbedingten Widersprüche, prägt die legitime Sicht der Dinge als eine besondere Form des symbolischen Kapitals. Von dessen Menge und Gewalt hängt wiederum ihre Durchsetzung als Gesetzesvorlage für den Reichstag ab. Die Zwecksetzung des politischen Feldes ist demnach nicht, wie oft angenommen, schlechthin immer nur der Kampf um die Macht, sondern der Vollzug von Abgrenzung, die Festlegung von Orientierung und die Sinngebung durch Kodifizierung der Aktionen, die sich ideologischen Positionen und programmatische Standpunkte manifestieren. Insoweit ist der Staatssekretär des Innern wesentlich an der Konstruktion der Reichsleitung als eine epistemologische Gemeinschaft beteiligt.
Die erworbenen Ressourcen an kulturellen Führungskapital verwaltet, akkumuliert und transferiert ein Organisationsapparat von Mitarbeitern, der sich aus der Justiz- und Verwaltungselite rekrutiert. Zwar ist die Verinnerlichung der Werte und Normen als Verhaltensdispositionen durch die Mitarbeiter eine Voraussetzung für den beruflichen Aufstieg, doch gehören sie deshalb noch längst zur herrschenden politischen Klasse. Ihr Zugang zu den Mitteln und die damit verbundenen Tätigkeiten werden definiert und kontrolliert. Wie schwierig das ist, offenbart der Fall Rudolf Martin. 1901 noch unter Posadowsky als Regierungsrat im Reichsamt des Innern tätig, publizierte in den Jahren 1911 bis 1914 die Vermögen und Adressen der Einkommensmillionäre. Es war eine Zeit, in der es so schien, als wenn die Aufgaben vom Reichsamt des Innern und die ihm unterstellten Institutionen ins unermeßliche wachsen. Sie "alle zu leiten, im Auge zu behalten, zu kontrollieren und zu entwickeln", befinden 1906 (464) die Grenzboten, "übersteigt die Arbeitskraft eines einzelnen, sogar des tüchtigsten Mannes weit hinaus." (DG 1906, 464) Wie zu erwarten, erhob die Öffentlichkeit hierzu öfters den Bürokratie-Vorwurf. Seine Größe und den damit angeblich verbundenen Verlust des unmittelbaren Zusammenhangs, waren dazu durchaus angetan. Indes konnte man diesen Vorwurf so mit demselben Recht gegen fast jede Behörde wenden. Außerdem glich das Amt diesen Nachteil durch zahlreiche Enqueten aus, die es jahrein jahraus über alle möglichen Fragen und Bevölkerungsgruppen verfasst und es so in unmittelbare Berührung mit den betreffenden Kreisen setzte. Das erbrachte eine Fülle von Kenntnissen aus dem unmittelbaren praktischen Leben und bereicherte seine Tätigkeit. In dieser Hinsicht war es also den anderen Ämtern und Ressorts gleichwertig, wenn nicht sogar überlegen. (Vgl. DG 1906, 463). Als Stellvertreter des Reichskanzlers leitet Posadowsky die Sitzungen des Bundesrats und war als preußischer Minister ohne Portefeuille, wie alle anderen Staatssekretäre, gleichzeitig stimmberechtigtes Mitglied des preußischen Staatsministeriums. In dieser Eigenschaft hatte er selbstverständlich das Recht, zu allen ernsten politischen Fragen, die das Reich und den Staat bewegen, Stellung zu nehmen. Da alle politischen Vorlagen, ehe sie in den Bundesrat kommen, zunächst das preußische Staatsministerium passieren musste, war das Staatssekretariat des Reichsamtes des Innern sehr wohl in der Lage, sich zu jedem in seinem Ressort ausgearbeiteten politischen oder wichtigen sozialpolitischen Gesetzesentwurf im preußischen Staatsministerium auszusprechen. Allerdings kann die politische Bekämpfung der Sozialdemokratie nur eine sekundäre, nebenamtliche Aufgabe sein. (Vgl. DG 1906, 462) Wenngleich sich Staatssekretär Posadowsky "mit der politischen Tätigkeit, der Organisationen der Sozialdemokratie, ihren Vereinen, ihren Versammlungen und ihrer Presse nicht zu beschäftigen hat, weil das nicht zu seinem Ressort gehört, und weil er ihr gegenüber auch keinerlei administrative Massnahmen treffen kann, so hat er dafür einen um so genauern Einblick in die vielen Wirkungskreise des Ressorts, in die Stellung der Sozialdemokratie zu den sozialpolitischen Massnahmen des Reiches und deren Wirkung auf die Arbeiterkreise." (DG 1906, 462) Ein großer Teil der Arbeit von Posadowsky im Reichsschatzamt und Reichsamt des Innern galt immer dem Reichstag (Bild). "In der persönlichen Vertretung seines Ressorts vor dem Reichstage, sogar bis in alle Kleinigkeiten und in der Verantwortung der unglaublichsten Fragen, geht er fast zu weit." (DG 1906, 462) Er und ein nicht geringer Teil seiner Räte waren dazu verurteilt, Woche für Woche in Kommissions- und Plenarsitzungen des Reichstages zuzubringen. Die "Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst. Die Grenzboten" (DG 1906, 464) stellten fest, dass die Führung einer solchen Institution, wie das Reichsamt des Innern, "nur unter völligem Verzicht auf alles Behagen, auf alle Annehmlichkeiten des Lebens möglich" ist. Posadowsky erkannte, erklärt 1974 Albin Gladen, "dass staatliche Sozialpolitik in eine emanzipatorische Gesellschaftspolitik einmünden müsse, die den Arbeitern Freiheit und Möglichkeit zur Selbsthilfe gab." An die Lösung der Arbeiterfrage nicht nur sozialpolitisch heranzugehen, sondern sie als Verfassungsfrage anzuheben, das wollte er nicht verantworten. Wollte oder konnte er nicht? Was zur wichtigen Frage führt, über welchen Einfluss und Handlungsspielräume der Staatssekretär unter den institutionellen Verhältnissen der Reichsleitung verfügte? Wie weit reichte sein Einfluss auf Entscheidungen der Reichsleitung? Einen guten Einblick bietet am 18. und 19. März 1897 die Debatte um die Marine-Vorlage im Reichstag.
In der Budget-Kommission, referiert Graf Posadowsky, "kamen Zweifel auf, "ob die Finanzverhältnisse des Reiches gestatten, die Forderungen der Marine zu erfüllen." Wie reagiert er darauf? - Gestern hat der "Herr Reichskanzler als der verantwortliche politische Chef der Reichsverwaltung, ausdrücklich erklärt, er halte die Genehmigung der Forderungen vom politischen Standpunkt aus für nothwendig. Er könnte, meine Herren, unter diesen Umständen fast als überflüssig erscheinen, wenn ein nachgeordnetes Organ des Reichskanzlers, der Reichsschatzsekretär, jetzt noch das Wort zur Sache ergreift." (Posa RT 19.3.1897, 5164) - Er zieht sich also auf die Subordinationverhältnisse von Reichskanzler, Reichsleitung und Reichstag zurück.
"Vergessen Sie aber das eine nicht", rät Eduard Bernstein (RT 25.5.1906, 3509) seinen Kollegen im Reichstag, "Preußen nimmt eine Ausnahmestelle im Reiche ein, Preußen ist der führende Staat im Deutschen Reich, das preußische Staatsoberhaupt ist zugleich Deutscher Kaiser; die leitenden Minister Preußens - und der Herr Staatssekretär Graf Posadowsky ist ein Minister Preußens - sind maßgebende Minister im Reiche." Von den 397 Abgeordneten des Reichstages entfallen 236 auf Preußen. Das Land umfasst drei Fünftel der Bevölkerung des Deutschen Reiches. Um die Prärogative zwischen dem Reich, den - wie es damals hieß - "verbündeten Staaten" und Preußen gab es immer wieder Konflikte. Preußen stritt um den Einfluß im Reich und auf das Reich. Ganz unumwunden kommt diese Absicht in dem Antrag von Vertretern des höheren und mittleren Adels in Preußen am 10. Januar 1914 im Preußischen Herrenhaus zum Ausdruck, worin die "königliche Staatsregierung" ersucht wird, im Reich dafür zu wirken, dass der Stellung Preußens, auf die es seiner Geschichte wie seinem Schwergewicht nach Anspruch hat, nicht dadurch Abbruch geschieht, dass eine Verschiebung der staatsrechtlichen Verhältnisse zugunsten der Einzelstaaten Platz greift. (Bernstein 1914, 153) In der Zeit als Staatssekretär lehnte er sich an das Zentrum an. Als die Konservativen in der Mitte der neunziger Jahre das Lager der Scharfmacher überliefen und ihr sozialpolitisches Programm in Forderungen nach Ausnahmegesetzen erschöpfte, ändert sich der Gang der Gesetzesmaschine spürbar. (Ludwig 1911, 26) Über die genaue Aufgabenverteilung zwischen dem Staatssekretär und dem Reichskanzler, kritisiert Posadowsky 1899, bestanden bei den Reichstagsabgeordneten öfters Unklarheiten. Er steht dem Reichstag als Ressortchef vom Reichsamt des Innern gegenüber. Während der Reichskanzler als preußischer Ministerpräsident auch im Herren- und im Abgeordnetenhaus Fragen der allgemeinen Staatspolitik zu erörtern und demgemäß für deren einheitliche Verhandlung zu sorgen hat. Er verantwortet die allgemeine Reichspolitik und formuliert ihre Führungslinien. Im Zusammenwirken der Institutionen entstand an der Schnittstelle von Reichsleitung, Reichskanzler, Reichstag und Einzelregierungen öfter Unzufriedenheit. Mängel die angeblich aus seiner Zuständigkeit, resultierten, oblagen bei näherem Hinsehen in Verantwortung der Einzelregierungen. "Ich begegne auch hier wieder dem Irrthum, dem ich hier im Reichstag so oft begegne," stellt Posadowsky (Posa RT 13.12.1899, 3387) im Zusammenhang mit der Landwirtschaftspolitik fest, "daß man nicht unterscheidet zwischen den Rechten, welche die Reichsverfassung dem Reichskanzler und den verbündeten Regierungen gibt, und der souveränen Verwaltung der Einzelstaaten." Obwohl preußischer Staatsminister, will man Posadowsky im preußischen Landtag nicht sehen. Parlamentarisch beschränkt sich die Vertretung seines Ressorts auf den Reichstag, das allerdings das umfangreichste war, was die Regierung zu vergeben hat. (DG 1906, 462) In der Ära Posadowsky unterstützen das Zentrum, die Freikonservativen, Sozialdemokraten, Deutsche Volkspartei und der rechte Flügel der Nationalliberalen die Vorlagen zur Daseinsvorsorge, während die Deutsch-Konservativen und die übrigen Gruppen der Linksliberalen einen weiteren Ausbau der Sozialgesetzgebung bzw. den Staatsinterventionismus überhauptablehnen (vgl. Über Posadowsky, 1906). Was lässt das persönliche Regiment von Wilhelm II. zu? "Regierung, Beamtenschaft usw waren" . durchsetzt von dem Bestreben, die Gunst, der Allerhöchsten Person für sich zu gewinnen bzw. zu erhalten" (Röhl 2002, 133). ". immer weiter frisst sich die Überzeugung Bahn, die sämtlichen Minister seien nicht selbständige Männer, die nach ihrem guten Glauben handeln, sondern mehr oder weniger Puppen, die blindlings den Winken und Launen ihres kaiserlichen Herren folgen" (W. J. Mommsen 2005, 64). "Die Reichskanzler, die Staatssekretäre der Reichsämter und die preußischen Minister waren praktisch zu Handlangern der Monarchen herabgesunken ....". Das System auf dem Prinzip des "allerhöchsten Vertrauens" und Schmeichelns, musste zur Katastrophe führen (Röhl 2002, 130) und ballte sich 1914 zum Desaster.
Der Staatshaushalt soll - so lautet die Aufgabe - bis 1904 32 Millionen Mark mehr für Flottenrüstung bereitstellen.
emergieren im Reichstag unter dem Tagesordnungspunkt zur ersten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes, betreffend der deutschen Flotte die Interessen, die Motive und Widersprüche der Rüstungspolitik.
Die "ungeheure Entwicklung unserer überseeischen Interessen", eröffnet Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819-1901) die Aussprache, erfordert die Schaffung einer "leistungsfähigen und achtungsgebietenen Kriegsflotte". Gelingt es, warnt der Reichskanzler eindringlich, in den nächsten Jahren nicht, mit der weiteren Expansion der überseeischen Handelsinteressen die Aufgaben auf Maritimen-Gebiet zu lösen, stehen Deutschlands Exporte auf dem Spiel. Bevor der Staatssekretär des Innern Graf von Posadowsky ans Werk geht, reden noch Konteradmiral Alfred von Tirpitz, Staatsekretär des Reichsmarineamtes, Dr. Bruno Schoenlank, seit Oktober 1894 Chefredakteur der sozialdemokratischen "Leipziger Volkszeitung", Freiherr Max von Thielmann, Staatsekretär des Reichsschatzamtes, und der deutsch-konservative Friedrich Graf zu Limburg-Stirum. Als der Moment gekommen, kritisiert er die Ablehnung der Flottenrüstung durch die Sozialdemokraten. "Also daß wir diese Partei für jene nationale Frage gewinnen, darauf, glaube ich, kann die Mehrheit des Hauses mit den verbündeten Regierungen von vornherein verzichten." Die Zahlen über die Steigerung der Rüstungsausgaben, wie sie der Sozialdemokrat Dr. Schoenlank vorgetragen hat, und Eugen Richter am nächsten Tag ganz, ganz ähnlich vortragen wird, beweisen seiner Ansicht nach überhaupt nichts, weil sie der historischen Entwicklung der Marine nicht Rechnung tragen. Es ist, so sein Einwurf, ein Aufbau von der Stunde Null an, der demzufolge entsprechende Aufwendungen verlangt. Kritik trifft den Vertreter der Sozialdemokratischen Partei, der behauptete, dass es früher eben keiner Flotte bedurfte, um den Handel zu beleben. Vielmehr wäre die Niederlassung im Ausland die beste Handelsvertretung. Hierauf erwidert Posadowsky: "Ich glaube die Verhältnisse haben sich außerordentlich geändert. Es ist ganz unzweifelhaft, daß durch Europa und auch durch außereuropäische Kulturstaaten das Bestreben geht, sich protektionistische nach Außen abzuschließen. .... Was folgt daraus? Es folgt meines Erachtens daraus, das unsere Lage für den Export von Jahr zu Jahr eine schwierigere sein wird .... " Hinzukommt, dass wir für Millionen Rohprodukte einführen. Ein großer Teil unsere ganzen Ausfuhr ist weiter nichts als ein Veredlungsverkehr mit diesen Rohprodukten. Speziell die "halbkultivirten Staaten" bemühen sich verstärkt darum, ihre eigenen Rohstoffe selbst in Fertigfabrikate umzusetzen. "Eine nothwendige Folge dieses Bestrebens wird sein, dass
sein wird, dass nicht nur zu leiden haben wird unter europäischen Konkurrenz, sondern auch unter Konkurrenzneid der einheimischen Produzenten." (Posa RT 6.12.1897, 58) Im Weiteren greift er die Schlussfolgerung seines Vorredners heftig an, der behauptet, dass "die Verstärkung der Marine der Anfang einer gewissen Aggressivpolitik" darstellt, und bezeichnet sie als "völlig irrthümlich". Deutschland kann, davon ist er fest überzeugt, sich die 32 Millionen Mark Steigerung für die Flottenrüstung bis 1904 leisten. Auf keinen Fall darf sich die Mehrheit Hauses der Flottenrüstung als einer großer "nationalen Aufgabe" widersetzen, weil es dann "keines Aktes des Absolutismus mehr" bedarf, "um den Parlamentarismus zu vernichten". (Posa RT 6.12.1897, 59f.)
Eugen Richter (*1838) von der Freisinnigen Volkspartei wohnte seit 1871 allen Verhandlungen des Reichstags im Plenum und in den Kommissionen zur Militäretaterhöhung bei. Seine Darlegungen am zweiten Tag der Debatte, bieten einen Überblick über die Intentionen der Rüstungs- und Flottenpolitik. In Friedenszeiten übernimmt der Flottenbau den Schutz der Nord- und Ostsee und die Sicherung der handelspolitischen Interessen im Ausland. Es ist "unstreitig", sagt er, daß die "Angriffskräfte fremder Mächte in der Nord- und Ostsee erhöht" wurden. Von vielen anderen Rednern unterscheidet er sich durch die rational-ökonomische Methode mit der er die Rüstungs- und Verteidigungsausgaben überprüft und hinterfragt. Ihnen kommen ernste Zweifel, ob dies nach vernünftigen, begründbaren Kriterien erfolgt. Dazu nennt er zunächst einige Zahlen. Das deutsche Heer ist heute in seiner Friedenspräsenzstärke um 91 000 Mann stärker, als beim Tod Kaiser Wilhelm I. (1797-1888). In diesem Zeitraum stieg das Ordinarium des Militäretats von 363 Millionen auf 487MIllionen Mark. Heer und Marine erhielten in dieser Zeit 1816 Millionen Mark an einmaligen Ausgaben. "Infolgedessen hat sich die Reichsschuld seitdem verdreifacht, ist von 721 Millionen auf 2151 Millionen gestiegen." Obwohl die Rüstungsausgaben unverhältnismäßig hoch, hält er ein rein defensives Verhalten für nicht klug. "Gewiß," erläutert er seinen Standpunkt, "es bedarf auch Panzerschlachtschiffe, es genügt nicht bloß die reine Defensive. Die Defensive kann unter Umständen nur durch offensive Vorstöße wirksam gemacht werden; ." (Richter RT 7.12.1897, 70) Der "Schatzsekretär", wie Eugen Richter Posadowsky gerne anspricht, "hat die Ausdehnung der Flotte mit der Handelspolitik
Er hat es so dargestellt, als ob, weil die Staaten sich mehr und mehr in protektionistischer Weie abschließen, weil die Zölle erhöht werden, weil unseren Exporteuren die Konkurrenz mit den Kaufleuten andere Länder schwerer wird, nun die Flotte eine stärkere Ausdehnung haben müsste. Ja, wie denkt sich denn der Herr Staatssekretär, daß Kriegsschiffe, die er haben möchte, für die Konkurrenz ausgleichend wirken können, um die Schwierigkeiten zu beseitigen im Absatz, in der Preisstellung, die zwischen dem Exporteuer und dem Konkurrenten im Ausland bestehen? Meine Herren, Fürst Bismarck hat es stets von sich gewiesen,
und als einmal eine solche Bemerkung im Reichstag fiel, meinte er:
Vielmehr kommt es darauf an, die "richtige Erkenntnis" von den gegenseitigen Interessen der Länder zu erhalten, mit denen wir in Handelsbeziehungen stehen. (Richter RT 7.12.1897, 70) Den Streit mit Eugen Richter setzt Posadowsky am 14. Dezember 1899 in der Debatte um die Flottenrüstung fort. Er, so sein Vorwurf, beachte nicht die Lage der Außenhandeltreibenden, die schwierig und politisch elendig ist. Mittlerweile ist es so, wenn das Auswärtige Amt von ihnen einen Hilferuf erhält, dass es manchmal keine Schiffe schicken konnte oder doch nicht in der erforderlichen Zahl. Die Händler erhielten keinen Schutz. Allerdings sind Fälle bekannt, worauf Hermann Molkenbuhr (1851-1926) in der Reichstagssitzung am 9. Dezember 1897 (101 ff.) ausführlich einging, "die ja auch früher erwähnt sind, wo man Forderungen gestellt hat, und die gewünschten Schiffe nicht gekommen sind, aber wo die Reichsregierung aus wohlerwogenen Gründen nicht eingreifen wollte." Das war der Fall "als der Vertreter der Firma Wölber und Brohm, die bei dem Kriege zwischen Frankreich und Dahomey an Dahomey Waffen und Munition lieferte und dafür Sklaven in Zahlung nahm." "Damals hat Deutschland seine Hilfe versagt ...... , und Herr von Marschall sagte: .... wenn man damals den Vertreter der Firma, Herrn Richter, gehängt hätte, hätten wir keinen Finger gerührt."
Posadowsky zu Militärvorlagen
und Haushaltspolitik: Am 28. März 1898 findet die dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend die Deutsche Flotte statt. "Die Vorlage von 1898 wurde von einer Mehrheit von 212 gegen 139 Stimmen angenommen", erinnert sich 1916 Bernhard von Bülow in Deutsche Politik (231). "20 Mitglieder des Zentrums, der gesamte Freisinn und die Sozialdemokraten [außerdem die Polen und Dänen] versagten sich. Die bedeutungsvolle Flottenvorlage des Jahres 1900 fand den Freisinn wiederum geschlossen auf der Seite der Gegner." "Mehr als einmal hatte die Entscheidung [im Reichstag]", blickt 1916 Bernhard von Bülow zurück, "auf des Messers Schneide gestanden." Erfolg und Mißerfolg waren dabei vom Zentrum abhängig. "Das mußte dieser Partei nicht nur ein starkes Machtbewusstsein, sondern auch große tatsächliche Macht geben." (Deutsche Politik 231/232) "Das Zentrum ist die ausschlagende Partei," stellt August Bebel (RT 421) am 11. Dezember 1900 ernüchtert fest, "ohne das Zentrum ist nichts gegenüber der Regierung zu machen." Ihm haben wir d a s - die Beschlüsse zur Flottenrüstung - zu verdanken, und hält ihnen sogleich vor: "Sie, meine Herren, im Zentrum, sind heute nichts weiter als die Schleppenträger der Regierungspolitik."
Das Gesetz, betreffend der deutschen Flotte tritt am 10. April 1898 in Kraft. Paragraph 7, bestimmt für die nächsten sechs Rechnungsjahre von 1898 bis 1903, dass der Reichstag für die Marine-Etats nicht mehr als 408 900 000 Mark zur Verfügung stellt, davon für Schiffsbauten und Armierungen mehr als 356 700 000 Mark. Als fortdauernde Ausgabe des Marine-Etats stellt er mehrmals pro Jahr eine durchschnittliche Steigerung von 4 900 000 Mark bereit. Auf den ersten Blick ist die Abstimmung vom 28. März ein grandioser Erfolg der Tirpitz-Truppe auf Basis der Einkreisungs-Doktrin, der Abwendung der bestehenden Bedrohung und des Nationalstolzes. Vor zwei Jahren erregte die Deutsche Öffentlichkeit der Jamesonschen Einfall in den Transvaal. Ganz anders war es dann als am 14. November 1897 deutschen Schiffe die Bucht von Kiautschou besetzten. Gegen die Eroberungspolitik erregte sich der breiten Öffentlichkeit kein Widerstand. Wilhelm von Kardorff von der Deutschen Reichspartei bezeichnet dies am 8. Februar 1898 im Reichstag als Ausdruck von einem "besondere(n) Vertrauen der ganzen deutschen Bevölkerung zu seiner auswärtigen Politik". Zwei Tage vor der Abstimmung am 28. März fand zu dieser Vorlage ein weitere Beratung statt. Oberlandesgerichtsrat Hermann Roeren (*1844), Abgeordneter für Saarburg-Merzig-Saarlouis, besteht darauf, daß das Notwendige, zu genehmigen ist, wobei die parlamentarische Macht nicht aus der Hand gegeben werden darf, womit Posadowsky nicht einverstanden ist und entgegnet:
Sie gerieren sich als Feinde der Staatsordnung. " . und ich bedaure, daß es noch Leute giebt (Unruhe und Zurufe bei den Sozialdemokraten), dass es noch Leute giebt, meine Herren, die diese Gefahr nicht erkannt haben und über diese Gefahr eingeschlafen sind." (Posadowsky RT 26.3.1898, 1777) Er sagt, daß die Regierung das Volk aufrütteln will - damit es der sozialdemokratischen Bewegung endlich Herr werde. "Wir wünschen gute und angenehme Verrichtung", erwidern die Sozialdemokraten (VS 29.3.1898)
.... das kleine, tapfere Volk der Buren (Posadowsky 1900) zurück 1898 der Spanisch-Amerikanische, 1904 / 05 der Russisch-Japanische Krieg und 1898/1901 der Überfall auf China, leiteten eine neue Epoche der Weltgeschichte ein. Ihnen steht in historischer Bedeutung der Burenkrieg, der auf die deutsche Außenpolitik, speziell ihr Verhältnis zu Großbritannien und der intensiven Flottenrüstung Einfluss nimmt, in nichts nach. Cecil Rhodes (1853-1902), Ministerpräsident der britischen Kap Kolonie, inszeniert vom 29. Dezember 1895 bis 2. Januar 1896 mit einer Streitmacht Südafrikas den Überfall auf den Transvaal. Leander Jameson (1853-1917) bricht mit achthundert Mann von dem westlich gelegenen Betschuanalande in das Land der Buren. Bald darauf folgt die Meldung, dass die Truppen der Chartered-Company in der Schlacht bei Krügersdorf vollständig geschlagen wurden. Der Überfall kam nicht überraschend. Es lockten die Rohstoffe. Der Goldfund 1886 am Witwatersrand (im Transvaal) zog das dividendenhungrige Kapital ins Land, was sich Transvaalregierung mit Konzessionen gut bezahlen ließ. (Bernstein 1896a, 487) Südafrika 1895 förderte ein Fünftel des Goldes der Erde. Und hier setzt die unten abgebildete Karikatur an.
"Der tollkühne Streich des Dr. Jameson von der Britisch-Südafrikanischen Gesellschaft hat eigenthümliche Wirkung gehabt. Er hat die Franzosenfresser Deutschlands und die wüthendsten Deutschlandfresser Frankreichs einander in die Arme getrieben." Beide, teilt Eduard Bernstein am 6. Januar 1896 seine Beobachtungen aus London mit, ergehen sich in moralischer Empörung über das "Attentat auf das Hausrecht eines freien Volkes". Dabei hatten die "guten Seelen in Paris" noch blutige Hände von den Raubzügen in Siam ud Madagascar. Und die in Deutschland am lautesten über das an ihren ""Stammesbrüdern" im Transvaal verübten Unrecht schreien", würden lieber heute als morgen so und so viele hunderte der eigenen Landsleute heimatslos machen. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass die Entrüstung selber gegenstandslos ist. Fest steht, das die Jamesonsche Truppe nicht einer improvisierten "heldenmüthigen Vertheidigung von Haus und Herd" erlegen ist, "sondern den Schüssen einer mindestens drei- bis vierfachen Überlegenheit, die in wohlverschanzter Position sie erwartet hatte." Eine zweite Idee, die geflissentlich propagiert, muss ebenfalls verabschiedet werden, nämlich, dass Buren lediglich ein harmlos, friedliches Hirten- und Bauernvolk seien. "Der Bur ist Großfarmer auf eroberten Grund und Boden, der extensivsten Landbau, und Viehzucht mit den versklavten Ureinwohnern betreibt. Das Recht, die Neger im Sklavenverhältnis zu halten, ist seit über sechzig Jahren das wichtigste Streitobjekt." (Bernstein 1896, 484f.)
Großbritannien würde auf eine Ermutigung der Buren durch das Deutsche Reich, in welcher Form auch immer, empfindlich reagieren. Staatssekretär des Auswärtigen Adolf Marschall von Bieberstein fährt unter dem Einfluß von Julius Holstein (1837-1909) einen harten Kurs. Noch bevor die Krise ihren Höhepunkt erreichte, wurde Botschafter Graf Paul von Hatzfeldt (1831-1901) angewiesen, der britischen Regierung zu erklären, dass das Deutsche Reich es nicht hinnehmen werde, wenn die Selbständigkeit der Burenrepublik beeinträchtigt. Wenn Jameson nicht sogleich niedergeworfen worden wäre, ständen Deutschland und England am Rande eines Krieges. (Mommsen 2005, 87) Großbritannien ließ sich von seinen Eroberungsplänen nicht abbringen und entfachte eine scharfe antiburische Kampagne. In Verbindung mit der Durchsetzung des Ausländerwahlrechts wurden erneut britische Truppen an die Grenzen der Burenrepubliken entsandt. Daraufhin bot der Präsident der Südafrikanischen Republik Paul Kruger (1825-1904) der britischen Regierung Verhandlungen an und stellte am 9. Oktober 1899 Ultimatum, die Truppen innerhalb von 48 Stunden von den Grenzen zurückzuziehen. Am 11. Oktober 1899 erklärt er Großbritannien den Krieg. August Bebel zitiert in seiner Reichstagsrede am 11. Dezember 1899 (422) aus der Depesche von Kaiser Wilhelm II., die nach dem Einbruchversuch der Jameson-Truppen in den Transvaal an den Präsidenten der Republik Südafrika Paul Krüger (1882-1902) versandt wurde:
Am selben Tag soll Konteradmiral Tirpitz dem Kaiser "Die uferlosen Flottenpläne" (Reichspost 1896), also den Plan für den Bau von zwei Hochseegeschwadern vorgelegt haben. Die Presse kolportiert Zweifel, ob er dazu wirklich berechtigt gewesen, und ob nicht die Marineverwaltung zuständig sei. Bei Akademikern, Arbeiterinnen und Arbeitern, Politikern und Arbeiterfunktionären, löste der Konflikt Großbritanniens mit der Burenrepublik Transvaal von Links bis Rechts heftige Diskussionen aus. Eine Unmenge von Publikationen erschienen über die nationale Souveränität, von Recht und Gesetz, Methoden und Folgen der internationalen kapitalistischen Ausbeutung, zur Rolle von Großbritannien in der Welt und das Verhältnis von Deutschland dazu.
In der konservativen deutschen Presse traf die deutsche Reaktion überwiegend auf Zustimmung. August Bebel charakterisiert am 13. Februar 1899 (939) "die Stellung der deutschen Regierung in der Transvaalfrage" als "durchaus korrekt". Die öffentliche Diskussion über die Jamesonsche Truppe und den Kampf der Buren erreicht am 17. Dezember 1899 den Reichstag. Drangvoll gestimmt, nüchtern, weitsichtig und ohne Flausen im Kopf steigt Graf Posadowsky in die Debatte zur Buren-Frage ein. Die Analogie des Vorredners, zwischen den Zuständen in Deutschland und "den Verhältnissen des Landes wo das kleine, tapfere Volk der Buren jetzt einen schweren Kampf um seine Selbständigkeit führt (bravo!) ...." führt, "war doch etwas kühn". ".... ich glaube kaum, daß seine Deduktionen dahin gehen sollten, wir möchten in Deutschland Zustände einführen auf wirtschafthlichen Gebiet (Widerspruch), wie sie im Weideland von Transvaal existiren (Sehr gut! links.) Ich kann deshalb nicht verstehen, warum uns gerade die Buren heute vorgeführt wurden als Vorbild, wie wir unserer Politik im Reiche leiten sollten, um ein ähnliches Volk zu erzeugen wie die Buren." (RT 14.12.1899, 3396) Zustände wie im Transvaal möchte niemand. Doch brachte der Vorredner eine bewegende Frage hervor, indem er das Buren- und mit Bauernproblem in Deutschland verglich. Obschon nicht zu leugnen, dass der Opponent eigentlich die berechtigte Befürchtung äußerte, dass die ökonomischen Quellen von der sich Flotte und Armee ernähren und erhalten, durch Vernachlässigung der landwirtschaftlichen Produktion und des Mittel- und Bauernstand beim Übergang zum Industrieland ernsthaft ramponiert werden könnten, wollte Posadowsky darüber hier und heute nicht diskutieren. August Bebel schon. Der nutzte die Burenfrage, um den Exponenten der Flottenrüstung, die Folgen ihres Handelns aufzuzeigen: Wenn sie glauben, dass die Sozialdemokraten ebenso dafür eintreten müssten, dann sagen wir: "Fällt uns nicht ein." Uns werfen sie fehlenden Patriotismus vor, dabei singen die Agitatoren und Propagandisten der Flottenbewegung längst die
"Als der Burenkrieg ausbrach, wurde es einer englischen Firma, in der ein Bruder des Ministers Chamberlain Theilhaber ist und mit die Profite einheimst, als eine Art landesverrätherischer Handlung vorgeworfen, daß sie vor Ausbruch des Krieges an die Buren Gewehre und Munition geliefert habe, womit jetzt englische Soldaten erschossen würden. Nun, meine Herren, wenn eines Tages es das Unglück wollte, daß unsere Brüder, Söhne, Enkel zum männermordenden Kriege unter die Waffen gerufen würden, und sie dann, auf den Blachfeldern ihren Gegnern gegenüberstehend, die Todeswunde empfangen, dann sind es in so und so viel Fällen
mit denen sie erschossen werden. (....) Es sind die internationalen Kapitalisten, die Leute, die kein Vaterland kennen (Bewegung), die den Werth des Vaterlandes nach der Höhe des Profits bemessen." (Bebel RT 10.2.1900, 4022) Es war schon lange klar, dass die Sozialdemokratie die nationale Frage anders beantwortet als Bernhard von Bülow und die Flottenvermehrer, die sie für die Hochrüstung und Militarisierung instrumentalisieren. "Meine Herren, soweit meine Kenntniß der Verhandlungen des Reichstags geht," registriert Posadowsky schlicht, "hat aber die sozialdemokratische Partei bisher alle Flottenforderungen rundweg abgelehnt. (Sehr richtig!)" "Also daß wir diese Partei für jene nationale Frage gewinnen, darauf, glaube ich, kann die Mehrheit des Hauses mit den verbündeten Regierungen von vornherein verzichten." (Posa RT 6.12.1897, 58) 1914 sollte es anders kommen.
Extensive Interpretation der Weltpolitik zurück Deutschland stürmt auf das Spielfeld der Weltpolitik. Vornan das Großbürgertum in Erwartung neuer Märkte, gefolgt von der Mittelschicht mit ihren nationalen Sehnsüchten von der führenden Nation und dem Geist der Unbesiegbaren als Erbgut der Schlacht von Sedan. Die Weltpolitiker, fürchtet Eugen Richter (RT 1898, 701), kennen keine Grenzen. Womit dann die am 6. Februar 1888 im Deutschen Reichstag (673) während der Debatte zur Wehrvorlage durch Otto von Bismarck in einem Anfall von Schwelgerei und Selbstgerechtigkeit feierlich verkündete Reziprozität von militärischer Stärke und deutscher Friedfertigkeit endgültig entsorgt wäre. Pester LLoyd (Budapest) zieht am 9. Januar 1907 für den Mittelstand nochmal die Richtschnur nach:
Doch die braven Leut ahnen nicht, verzeichnet 1915 Friedrich Meinecke (1862-1954) in Nationalismus und nationale Idee (87), dass wahre Bildung und Bescheidenheit mit Zurückhaltung im Urteil beginnt, mit ruhiger Achtung und Aufgeschlossenheit allen Fremdartigen gegenüber. Aber was tut Familie Piefke? Eigentlich wollte sie nur das angehäufte Sparkapital gewinnbringend investieren, überschwemmt aber bei der Gelegenheit mit der nationalen Idee die "Gestade an Rivera und Sizilien". Ihr "naiver Dünkel," scheltet sie der Historiker der Staatsräson, droht "das Bild des Deutschen in den Augen anderer Völker zu entstellen". Flottenvermehrer und die Piefkes, nationalkonservative Parteisoldaten, wie Johannes von Miquel, und der Mittelstand mischen die Kolonial- und Weltpolitik auf. Mit Begeisterung stellen sich namhafte Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler in den Dienst der Flottenrüstung: Ernst von Bergmann (1836-1907), Vorsitzender der Gesellschaft der Naturforscher (1893), Ökonom und Historiker Gustav Schmoller (1838-1917), Historienmaler Anton Werner (1843-1915), Adolf Wagner, Mitglied des Vereins für Sozialpolitik und Rektor der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin, Komponist Richard Strauß (1864-1949) oder Theologie- und Kirchenhistoriker Adolf Harnack (1851-1930). [Flottenrüstung, Exportinteressen und nationale Vertheidigung zurück] Die deutsche Wirtschaft badet seit 1893/94 im Aufschwung. Er erfasste auch andere kapitalistische Länder, wie Ungarn, Japan oder Rußland. Besonders die Elektroindustrie und chemische Industrie durchlaufen eine rasante Entwicklung. Deutschlands Außenwirtschaft steigerte den Export um etwa ein Zehntel. Bis 1900 nimmt die Zahl der Aktiengesellschaften stark zu. Die Bildung von Monopolen erlaubte die Durchsetzung hoher Preise am Markt. In der Reichstagssitzung
erneuert Posadowsky seine Lageeinschätzung zum Außenhandel und zu den handelspolitischen Absichten, die er mit der Anwendung und Repräsentation von Gewalt verknüpft:
Das gestehe ich dem Herrn Abgeordnete Richter ohne weiteres zu:
Jemand, der aber eine starke Waffe in der Hand hat - den behandelt man, wenn es zum Streit kommt, immer mit mehr Achtung wie den Waffenlosen. (Zurufe links.)" (Posa 14.12.1899, 3388) Wilhelm II. erteilt am 3. Juli 1900 aus Anlass des Stapellaufs von "SMS Wittelsbach" in Wilhelmshafen den Auftrag:
Um dem Nachdruck zu verleihen, inszeniert sich in den Weltmeeren, gut umsorgt von 650 Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften, die "SMS Wittelsbach" (11.775 Tonnen Wasserverdrängung) mit 24-, 15- und 8,8 Zentimeter Schnellfeuerkanonen, zwölf Revolverkanonen und sechs Torpedorohren. So lässt sich, plädierten 1897 Bernhard von Bülow und Graf von Posadowsky, Außenhandel treiben. Der Entschluss zum Flottenbau war weitreichend und belastete das Verhältnis zu Großbritannien. [Kräftegleichgewicht herstellen zurück] Posadowsky ist bereit, erzählt das Protokoll über die
die gewaltigen, weiter steigenden Staatsausgaben der Flottenrüstung zu finanzieren. In dieser Debatte gerät Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst unter den Druck der Mittelparteien. Die Rechten glänzen mit harten Worten gegen die Reichsregierung. Eugen Richter weist die Anschuldigungen der Hamburger-Kaiser-Rede zurück, die behauptet, dass der Reichstag in den ersten acht Regierungsjahren die Zustimmung zur Flottenfinanzierung verweigert hat. Abgelehnt wurden lediglich zwei Küsten-Panzer. Wenn sich die Bevölkerung des Reiches jährlich um 600 000 Menschen erhöht, wie es Minister Johannes von Miquel in seiner Rede erwähnte, dann wäre es nun nach Ansicht des Abgeordeten von der Freisinnigen Partei an der Zeit, den Blick nicht nur auf die Schifffahrt zu richten, sondern auf die vielen anderen Bedürfnisse, die ihre Befriedigung erheischen. (Richter RT 14.12.1899, 3361) "Herr Abgeordneter Richter", hält Posadowsky ihn vor, "unterschätzt die Verpflichtungen, die Deutschland übernimmt mit der fortgesetzten Steigerung des Exports und mit der Vermehrung seines Kolonialbesitzes. Das ist eine feststehende Thatsache, mit der wir rechnen müssen." (RT14.12.1899, 3388) "Ich meine, wenn ein Staat wie Deutschland, der sich bereits so im Welthandel engagiert hat und mit Kolonialbesitz so festgelegt hat, nicht eine ausreichend starke Flotte hat, die den militärischen Anforderungen unter allen Umständen genügen kann, die an die Seewehr gestellt werden, so würde Deutschland etwa in der Lage eines Kavalleristen sein, der zwar sehr gut reiten kann, aber kein Pferd hat". (RT14.12.1899, 3388) [Rettung bringt die maritime Defensionsakte zurück] Um dem Volk die letzten Bedenken für die militärisch gestützte Außenwirtschaftspolitik zu nehmen, verweist Posadowsky am 6. Dezember 1897 (59) im Reichstag auf die "maritime Defensionsakte". In diesem Modus bekommt die englische Regierung zum Bau von Schiffen einfach eine Summe zur Verfügung gestellt, über die sie frei disponieren kann. Und wenn das, wie er ausführt, im "klassischen Land des Parlamentarismus" üblich, muss man sich in Deutschland nicht weiter um die demokratische Entwicklung ängstigen.
[Mehrheitsmeinung und Untertanenverstand zurück] Wird "die Nation stark und opferwillig genug sein", die finanzielle Aufgabe der Flottenrüstung "zu lösen"? Man muss Vertrauen haben "und von der Zukunft hoffen", antwortet Graf von Posadowsky, "dass die Nation stark und opferwillig genug sein werde, diese Aufgabe auch finanziell zu lösen. Einen mathematischen Beweis wird Ihnen der Herr Staatssekretär auch nicht erbringen können, dass die Entwicklung immer so sein wird, dass wir ohne neue Opfer diese Flottenverstärkung tragen können! Wenn aber die Mehrheit des Hohen Hauses der Ansicht ist: wir brauchen eine stärkere Flotte zur politischen und handelspolitischen Entwicklung Deutschlands - dann müssen wir auch den Mut haben, diesen Schritt zu unternehmen und, wenn es notwendig ist, auch die Mittel dafür aufzubringen. (Bravo! Rechts)" (Posadowsky RT 14.12.1899, 3388) Jahre später, am 19. Februar 1912 (132), verläuft die Debatte im Reichstag ähnlich. Doch Doktor Hermann Paasche (1851-1925) von der Nationalliberalen Partei weigert sich der Argumentation zu folgen und sagt: "Ich möchte mich aber da auch mit einem Wort des Herrn Grafen v. Posadowsky beschäftigen, dem ich nicht zustimmen kann, wenn er gesagt hat: entweder haben wir Vertrauen zu unserm Kriegsminister, zur Marine und Heeresverwaltung, dann müssen wir alles bewilligen; oder wir haben kein Vertrauen, dann dürfen wir ihnen nicht die Geschäfte unserer großen Heeresverwaltung usw. anvertrauen. Ja, meine Herren, ich glaube, dazu gehört nicht viel Aktenstudium, diesen Grundsatz vom beschränkten Untertanenverstand aufzustellen. (Sehr wahr!) Das ist ungefähr das, was in anderer Tonart laut ward:
Die Masse ist für Selbsttäuschung, Moden, Oberflächlichkeit, Suggestibilität, Führerkult und Okkultismus anfällig, woraus für die rationale Entscheidungsfindung in der Gesellschaft erhebliche Gefahren resultieren. Und trotzdem erteilt Posadowsky der Urteilsfindung durch Mehrheitsmeinung unbekümmert die Approbation. Im Rückblick auf diese Zeit sind wir schnell geneigt, diese Haltung zu disqualifizieren. Doch damals war es nicht unüblich, dass Prinzip der Mehrheitsmeinung und das Axiom des Relativismus miteinander zu verbinden. Daraus ergab sich, dass kein eindeutiges Kriterium für die Richtigkeit politischer Anschauungen ebenso wenig wie die Möglichkeit eines Standpunktes über den Parteien existierte. Deshalb darf, legt Gustav Radbruch (1878-1949) 1914 in der "Rechtsphilosophie" dar, die Demokratie nicht mit bestimmten Auffassungen identifiziert werden. Folglich gilt jede politische Auffassung als legitim, "die sich die Mehrheit verschaffen konnte", um "die Führung im Staate" zu übernehmen. [Manipulation mit der neutralen Bedeutung zurück] Den bereits im Reichstag florierenden Begriff der "Flottenschwärmerei" lehnt Posadowsky ab. Die Vergrößerung der Flotte ist für ihn das Ergebnis einer großen Bewußtseinserweiterung, wie er aus Anlass der Novelle des Flottengesetzes von 1898 erklärt:
Ganz so kann es nicht gewesen sein. Denn vom lebhaften Interesse der Massen blieb nicht viel übrig, als SPD-Reichstagsabgeordneter Richard Fischer am 12 Januar 1901 vor dem Reichstag in der Bueck-Woedtke-Posadowsky Affäre auspackte und nachwies, dass der CDI (Centralverband deutscher Industrieller) zur Flottenrüstung Jubelfeiern organisierte und sponserte. [Rüstung als Kulturausgabe zurück] Nun gilt es, Richter`s Argument von den unverhältnismäßig hohen Militärkosten niederzuringen (Posa RT 6.12.1897, 59). Und das geht so:
also eine Art K u l t u r a u s g a b e." [Eine Alternative zurück] Bebel stellt es so dar, moniert Posadowsky am 13. Dezember 1897 im Reichstag, als wenn Deutschland von England, Rußland und dem Panamerikanismus vollkommen eingesackt würde. Warum hat er beim Ausbau der Flotte dann nicht mitgearbeitet? - Bebel antwortet darauf:
Aber Sie haben ja nicht die Mittel! Wie traurig sieht es mit dem Fortbildungsschulwesen, mit dem landwirthschaftlichen sowohl wie mit dem gewerblichen aus! Nirgends Mittel! Meine Herren, ich führte an, daß in Oberschlesien allein es an 1200 Schulen giebt, in welchen mehr als 80 Schüler auf einen Lehrer kommen! Wenn Sie dem Kriegsminister die Zumuthung machen wollten, daß er die Lehrer seiner Armee, die Offiziere und Unteroffiziere, in demselben Maße reduziren sollte, wie Sie das für die armen Kinder des Volks jetzt thatsächlich thun, dann würde er erklären: meine Herren, ich kann keine Stunde mehr Kriegsminister." (Bebel RT 11.12.1897, 162) Was August Bebel über die schlechten Schulverhältnisse ausführte, untermauert der Abgeordnete Eugen Richter zwei Tage später im Reichstag: Das ist durchaus richtig. "Es ist auch keine sozialdemokratische Entdeckung, daß jetzt die Kulturaufgaben unter den Militärausgaben leiden". Weniger verständnisvoll nimmt er auf, dass Posadowsky die herabsetzende Kritik von Bebel an den Handelsverträgen nicht moniert. [Der Champion zurück] Am 14. Dezember 1899 möge laut Vorlage der Reichstag beschließen, dass die Zahl Schlachtschiffe verdoppelt wird, statt 19 Linienschiffe 40! Herr Schatzsekretär Posadowsky beziffert die jährlichen Mehrausgaben auf 25 Millionen Mark. Eugen Richter (RT 14.12.1899, 688 f.) rechnet nach und muss die jährlichen anfallenden Zusatzkosten auf 125 Millionen Mark erhöhen. Doch seine Kritik reicht weit über die finanziellen Folgen für die Bürger und Gesellschaft hinaus. Die Kultur und gesellschaftliche Denkweise, beobachtet (1899, 705) er, ändert sich, in der Form der Entstehung einer Hypermoral, die nach der Maxime verfährt:
Statt mit Sozialreformen, anstelle der Ausführung der Kaiserlichen Februarerlasse von 1890, befürchtet Reichstagsabgeordneter Richard Fischer (1885-1926) (RT 20.1.1898, 546), dass die Arbeiter jetzt mit der "Seeräuber-Politik der gepanzerten Faust" wehrlos gemacht werden sollen.
Der neue Champion agiert nicht auf den Grundlagen des Naturrechts. Seine Spezialität ist das positive Recht. Das wird deutlich in der Reaktion des Deutschen Reichs auf die Verhaftung von Emil Lüders in Porte Prince wegen Körperverletzung und Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Hierzu stellt am 6. Dezember 1897 der Staatssekretär des Auswärtigen Freiherr von Bülow fest: " Wir haben uns nicht zufrieden gegeben mit der Freilassung des Lüders, vielmehr betrachten wir es als unser Recht und unsere Pflicht, als Aequivalent für die unbilligen [Originaltext] der haitianischen Landesgesetzgebung, der Verfassung von Haiti und dem Völkerrechte gleichmäßig widersprechende Einkerkerung eines deutschen Staatsangehörigen angemessene Genugthung und Entschädigung zu verlangen. [Bravo!] Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß die haitianische Regierung nicht länger zögern wird, unseren Anforderungen Folge zu geben, die ebenso wohlberechtigt und wohlbegründet wie maßvoll sind. Ich gebe mich dieser Erwartung um so lieber und um so bestimmter hin, als wir nicht nur das gute Recht auf unserer Seite haben, sondern auch den Willen und die Macht, unserem Rechte Geltung zu verschaffen. (Lebhaftes Bravo.)" (Bülow RT 6.12.1897, 60) [Wir verlangen unseren Platz an der Sonne zurück] "Wir betrachten es als eine unserer vornehmsten Aufgaben," erklärt am 6. Dezember 1897 Bernhard von Bülow (1849-1929) vor dem Reichstag, "gerade in Ostasien die Interessen unserer Schifffahrt, unseres Handels und unserer Industrie zu fördern und zu pflegen." "Wir müssen verlangen, daß der deutsche Missionar und
geradeso geachtet werden, wie diejenigen anderer Mächte. (Lebhaftes Bravo.) Wir sind endlich gern bereit, in Ostasien den Interessen anderer Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren Voraussicht, daß unsere eigenen Interessen gleichfalls die ihnen gebührende Würdigung finden. (Bravo!) .... Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne. (Bravo!)" Der Staatssekretär des Äußeren verkündet bei dieser Gelegenheit (eben aus Anlass der Ersten Berathung des Entwurfs des Gesetzes, betreffend der deutschen Flotte) im Reichstag den neuen Leitsatz deutscher Außenpolitik:
Die internationale Konkurrenz der Großunternehmen, der Banken- und des Handelskapitals um Absatzmärkte verschärft sich und penetriert, verbunden mit "unaufhaltsame(n) Vordringen in alle Welttheile" (Bülow 1900), in die Handels- und Außenpolitik der Staaten. Graf von Posadowsky prophezeit am 2. März 1899 (111) auf der Fünfundzwanzigsten Plenarversammlung des Deutschen Handelstages in Berlin:
[Kanonenboot-Politik zurück] Die Besetzung der Bucht von Kiautschou (Jiaozhou) und der Hafenstadt Tsingtau (Qingdao) durch Deutschland 1897 - unter Drohung mit Kanonenbooten - markieren den Übergang zu einer ehrgeizigen, politisch und militärisch-aggressiven Weltpolitik. (Lagebericht Kiautschau-Bucht 1898) Die Erschließung der 360 Millionen des Agrikulturstaates China "ist nothwendig geworden für die kapitalistische Produktionsweise", rechnet Karl Kautsky 1898 im Aufsatz "Kiaotschau" vor, worauf dann bald die Schlussfolgerung detoniert:
"Bülow rechtfertigte die Okkupation auf dem chinesischen Festland mit dem Argument, dass die deutsche Industrie, die den amerikanischen Markt über kurz oder lang doch verlieren werde, ein größerer Absatz in Ostasien ermöglicht werden müsse." (Mommsen 2005, 96) Daraus ist nicht abzuleiten, dass er die ökonomischen Ziele der Weltpolitik in den Mittelpunkt stellte. Hätte er mal, könnte man in sarkastischer Manier einwerfen, machen sollen, also so richtig imperialistisch ökonomisch agieren, um das Desaster in Zahlen wahrzunehmen. Dem wich der vor etwa fünfzehn Jahren einst so famose Berichterstatter der deutschen Botschaft in Paris an das Auswärtige Amt aus. Weltpolitik war für ihn Prestige und innenpolitische Integrationspolitik für Familie Piefke (Friedrich Meinecke). Hermann Molkenbuhr (1851-1926) von der SPD sah das Ergebnis dieser Weltpolitik klar voraus und sprach es 1897 im Reichstag aus:
Die vorläufigen Kosten der ersten Aktion der deutschen Weltpolitik belaufen sich nach Eugen Richter (1898, 691) auf 10 Millionen Mark. Die Hinterbliebenen der Chinakämpfer erhalten laut einem im Januar 1901 dem Bundesrat vorliegenden Gesetzesentwurf 33 1/3 Prozent höhere Zuschüsse, als sie nach dem Militärpensionsgesetz von 1871 beanspruchen dürften. (JV 11.1.1901) [Der Kuli pocht an die Thore Europas Kautsky 1898 zurück] Zwei Jahre vor der Okkupation von Jiaozhou tauchten Pläne von Wilhelm II. zum Bau einer großen Schlachtenflotte auf. Seit dem chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95 wachsen die deutschen Begehrlichkeiten gegenüber dem geschwächten China. Ein Vorwand zur Intervention bot am 1. November 1897 der Mord an zwei katholische Priester in der Provinz Shandong. August Bebel (RT 19.11.1900, 20/21) erregt die Schönrednerei von Kanzler Bülow, weil ihm völlig unklar, wie er die Rolle des deutschen Missionswesens deutet, warum er so tut, also ob gegen sie bis heute kein Vorwurf erhoben werden kann. Wenn, egal ob evangelische oder katholische Mission, die für ihre religiöse Überzeugung Propaganda machen wollen, lautet sein Urteil, dann ist das Privatsache. Der Staat sollte sie nicht in Schutz nehmen. Bei der Ablehnung der Missionsarbeit stützt er sich auf die verhängnisvolle Rolle (Bebel) von Bischof Johann Baptist von Anzer (1851-1903), dem die katholische Mission im Süden der Provinz Shandong am Unterlauf des Gelben Flusses, einem Landstrich mit einer langen Tradition des Taoismus und Konfuzianismus, unterstellt ist. (Details) [Elend der Kolonial- und Weltpolitik zurück] Kanonenbootpolitik und Missionarstum drohen anderen Nationen und Völkern, den Weg zu selbstbestimmten institutionellen und wirtschaftlichen Reformen abzuschneiden.
Es scheint so, als wenn Posadowsky mit einem klaren Urteil zögert. Jahre später, am 24. August 1924, fordert er am Gedenkstein für die im Kriege Gefallenen Domschüler Selbsterkenntnis und außenpolitische Selbstbeschränkung. Heute kann er das nicht. Über Warum und Wieso, wäre lange zu diskutieren. Jetzt hilft erstmal Eugen Richter (RT 14.9.1899, 3370) mit klaren Worten aus:
Oftmals täuscht der Westen die Partner über seine wahren Ziele und die Folgen der Kolonialisierung hinweg. "Warum spricht man aber nicht auch von den scheußlichen Metzleien," fragt August Bebel (RT 27.11.1893), "welche sich unsere Schutztruppe bei der Erstürmung des Hornkranzes [am 12. April 1893] hat zu Schulden kommen lassen, von der entsetzlichen Thatsache, daß von den niedergemetzelten Menschen der größte Teil aus wehrlosen Frauen und Kindern bestanden hat?" "Es kann keinen Zweifel darüber bestehen," zensiert am 11. Dezember 1900 der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Reichstag die deutsche Ostasienpolitik, "daß das erste große weltpolitische Abenteuer, mit dem die berühmte Weltpolitik in die Praxis eingetreten ist, die Chinaaffäre, schon heute mit einem débâcle nicht bloß für Deutschland, sondern für die sämtlichen in China betheiligten Mächte geendigt hat." China könnte "für Deutschland ein deutsches Transvaal" werden. "Ach nein, meine Herren, nichts weniger als das:" erwidert ihn am selben Tag der Rittergutsbesitzer auf Nieder-Wabnitz bei Bernstadt und Mitglied der Freikonservativen Partei Wilhelm von Kardorff (RT 11.12.1900, 435), "denn die rückläufige Bewegung in der Welt ist auf das gigantische Emporwachsen der nordamerikanischen Industrie zurückzuführen." Amerika "wird
uns eine Eine krasse, typische politische Fehleinschätzung dieser Zeit bringt am 19. November 1900 (12) Bernhard von Bülow dem Reichstag zu Gehör:
Das kann nicht gelingen, weil im On-The-World Optimismus des Westens Anspruch und Wirklichkeit, Verkündigung und Praxis, zum Beispiel beim Freihandel, weit auseinanderfallen. Eine positive Folge der "Expansion nach China" erkennt Wolfgang J. Mommsen (2005, 97) in der "plötzliche(n) Veränderung für die weitere Vermehrung unser Flotte" und im Umschwung der öffentlichen Meinung zu ihren Gunsten. Ähnlich setzt Posadowsky am 14. Dezember 1899 im Reichstag die Akzente. Historisch gesehen erschien es zunächst so, als ob "Die politische Weltanschauung der Bourgeoisie" neutral ist, rühmte sich doch, wie Hannah Arendt (1955, 261) sagt, der "Imperialismus von Anfang an, dass er "über" und "jenseits" aller Parteien" steht. Doch mit der Neutralität war es nicht weit her, sprengt er doch, die rein ökonomischen Gesetzmäßigkeiten durch politisches Handeln, weshalb sich die Flottenvermehrung als ein Mittel für einen guten Zweck vor der Vernunft blamiert. Was dazu ihre Redner aus den Rüstungsunternehmen, den staatstreuen Organisationen und dem Staatsapparat applizieren, bezeichnet 1907 Pester LLoyd (Budapest) als die "Aufklärung des Volkes über die Nothwendigkeit einer zielbewussten Konial- und Weltpolitik". Tatsächlich ordnete die epistemologische Gemeinschaft der Flottenvermehrer aber Ursache, Wirkung und Folgen nach ihrem Gusto aneinander und flüchtete in ein mechanisches Weltbild, das (lediglich) von Raum und Größe erfüllt. "Meine Herren," sagt Reichsfinanzkünstler Johannes von Miquel, "wird sind in Deutschland zu groß geworden, um wieder zu klein zu werden, wir können nicht eine bloße Landmacht mehr sein, unser Wohl und Wehe hängt jetzt in viel größerem Maße von unserer Stellung im großen Weltverkehr ab." (RT 13.12.1899, 3333) So ist schwer zu entscheiden, was an dieser politischen Elite erschreckender war, fehlende ökonomische Expertise oder ihre Unfähigkeit zum geopolitischen Denken. Oftmals kamen sie bei der Einschätzung der Kräfte nicht über die Sprache der newtonschen Bewegungsgleichungen von 1687 hinaus. Idee und Anspruch der deutschen Weltpolitik waren von Anfang mit der Überschätzung der eigenen politischen Macht und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes vergesellschaftet. Wir ".... glaubten, eine Weltmacht nicht nur zu sein zu können, sondern auch wirklich zu sein." Diese Selbstüberschätzung büßte das deutsche Volk beim Ausgang des Krieges "auf das Furchtbarste", rechnet der Russlandexperte und Berliner Hochschulprofessor Otto Hoetzsch (1876-1946), politisch Deutschkonservativ (DKP) und Deutschnational (DNVP) orientiert, in seiner streng vertraulichen Denkschrift vom Oktober 1918 vor. [Die schönen Zeiten sind zu Ende .... zurück] Jedes Jahr im Dezember ruft der Reichstag zur Beratung und Verabschiedung des Staatshaushalts. Am Zehnten des Monats anno 1903 wartete auf Reichskanzler von Bernhard von Bülow, Freiherr Hermann von Stengel (Reichsschatzamt), Graf von Posadowsky (Inneres), Alfred von Tirpitz (Reichsmarineamt) und Karl von Einem (Kriegsminister) im Reichstag der Bundesratstisch.
Die Reichsfinanzen sind in keinem guten Zustand. Die Finanzpolitik ist auf einen falschen Weg. August Bebel bereitet sich gründlich auf seine Rede vor. Zuviel steht auf dem Spiel. Nicht nur die Staatsfinanzen! Auch zur deutschen Ostasienpolitik möchte seine Partei sich keine Missverständnisse leisten. Denn es ist zu befürchten, dass Deutschland durch die Weltpolitik in "große Weltverwicklungen hineingestürzt", "welche die allerschwersten Opfer von uns erheischen." Bebel analysiert die Aufgaben und ihre Kosten im Verhältnis zur ökonomischen Leistungsfähigkeit des Landes. Die "große Prosperitätsepoche" von 1895 bis 1900 ist vorbei. Zwar gingen die Einnahmen sprunghaft in die Höhe, doch die großen Flottenvorlagen von 1898 und 1900 sorgten dafür, daß die Ausgaben des Reiches bis in "unabsehbare Zukunft" gewaltig steigen werden. Mit der berüchtigten Zuschußanleihe ist "ein Weg betreten", "der mit Artikel 70 der Verfassung direkt im Widerspruch steht". Die schönen Zeiten sind zu Ende und sie versuchen "die ganze Last den dem Volke aufzubürden". (Bebel RT 10.12.1903) Es wäre leicht durch eine Erbschaftssteuer mindestens 300 Millionen Mark aus den Taschen der besitzenden Klassen herauszuziehen. Aber sie wehren sich "auf das entschiedenste" gegen die Reichseinkommen- und Reichserbschaftssteuer. Dafür plant man jetzt eine Wehrsteuer, die "ihre Haupteinnahmen aus den ärmeren Klassen" schöpft. Wir, die Sozialdemokraten, sind gegen die Vorlagen, weil die Einzelstaaten gegen die Einführung unbequemer direkter Steuern geschützt sind. Zwar fühlen sie sich finanzwirtschaftlich gegenüber dem Reich unabhängig, doch verleitet es sie auch zu unnützen Ausgaben ,was dann wieder neue indirekte Steuern im Reich notwendig macht. Zieht man dazu die kolossalen Schulden in Betracht, "dann sollte man sich wirklich sagen, das kann unmöglich so weitergehen." Schuld am Ganzen trägt das Zentrum, ohne dessen Zustimmung zu den Flottengesetzen, alles nicht möglich gewesen wäre. Seit 1897 kurbelt es die Flottenrüstung an, um Deutschland zu einer "Macht ersten Ranges" zu machen. Warum, flechtet Bebel (41) ein, ist mir nicht bekannt. Vielleicht liegt es daran, dass der Reichstag, "aus lauter großen Kindern" besteht, mit denen man machen kann was mann will. Das "denkbar traurigste Ergebnis unserer Politik" sind die Ausgaben für die Weltpolitik. 1897 betrug die E i n f u h r von China nach Deutschland 57,4 Millionen Mark und 55,5 Millionen Mark im Jahr 1902 . Und wie hoch waren doch die Aufwendungen? Für Kiautschou etwa 70 Millionen Mark. Die ökonomischen Erwartungen und Vorstellungen vom Bahnbau, scheinen sich nicht zu erfüllen.
Bei der Gelegenheit öffnet er sich einem anderen wichtigen Terrain der deutschen Außenpolitik: "Wie ich die Stellung Deutschlands zu dem japanisch-chinesischen Krieg nicht begreifen konnte, so halte ich auch die jetzige Haltung Deutschlands den russischen Eroberungsgelüsten in Ostasien gegenüber für verfehlt. Bei der Rüstungsgüterbeschaffung gehen die Militärs höchst leichtfertig vor, was bedingt, "das unser gesamtes Kriegsmaterial im Kriegsfall unterwertig ist". Zu der damals im Rahmen der Artillerievorlage 1896 eingeführten neuen Feldhaubitze, erklärt heute Generalleutnant Georg von Alten (1846-1912), dass "auf 100 Schuss" "höchstens zwei Treffer" kämen und dafür 30 Zentner Blei verschossen werden müssen. Nirgend sonst erneuert sich die Technik durch staatliche Finanzierung der Rüstung so schnell wie in Heer und Marine. Die Gesellschaft bringt den
große Opfer. (Alles Bebel RT 10.12.1903, 38 ff.) Nach Bebel spricht der Reichskanzler Bernhard von Bülow (RT 10.12.1903, 54) und weist dessen Kritik an der Wehrpolitik strikt zurück. Doch spricht er sich zum Soldaten-Drill kritisch aus. Zwar hat dieser seiner Überzeugung seit Friedrich Wilhelm I. zu den "Erfolgen der preußischen Waffen" beigetragen, was aber nicht die bekanntgewordenen grausamen und brutalen Misshandlungen von Soldaten rechtfertigt, wofür die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen sind. [Schuld sind die Europäer und Amerikaner zurück] Baron von Korff, eigentlich Emanuel von Schmysingk (1826-1903), berichtet 1893 in seinem Buch darüber, dass die chinesische Bevölkerung unausgesetzt Schikanen ist. Wenn der Chinese in die Nähe eines Europäers oder Amerikaners kam, wurde er gepeitscht oder mit Stöcken geschlagen. Er sah wie man den Leuten ihre aus Bambus gefertigten Karren und Wagen bei Seite schleuderte und mit den Füßen zertrat, wie man auf den Schiffen die Leute mißhandelte, so daß dadurch "nothwendig eine hochgradige Erbitterung, Haß und Rachelust angesammelt werden müsse und sich eines Tages schwer an den Europäern und Fremden rächen werde." "Das Vorausgesagte ist jetzt eingetroffen." "Ich klage", erhebt am 19. November 1900 (22/23) August Bebel im Reichstag mutig die Stimme, "hiermit Europa und die Vereinigten Staaten an, daß sie die wirklichen Urheber der Wirren sind, die wir in China haben. (.....)"
Kohlehandel-Syndikate
zurück Die Wirtschaftskrisen des Kapitalismus brachten den Niedergang des Manchestertums, zerstörten den Glauben die Segnungen der freien Konkurrenz und an den Freihandel. An ihre Stelle trat das Monopol nach innen, der Schutzzoll und der feste Unternehmerverband nach außen. (Kautsky 1900, 492) Nicht nur die Gründung der AEG zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder des Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikats (RWKS) sind protypische Erscheinungen moderner Organisationsformen der Produktion und schnellen Konzentration der Produktion. In Kleinstädten äußern Bürger ihren Unwillen über den etwa ab 1900 forcierten Bau städtischer Warenhäuser und ihre Auswirkung auf die Kleinhändler.
Aus dem Centralverband deutscher Industrielle (CDI) dringt in Vorbereitung für die am 9. April 1902 geplanten Konferenz nach außen, dass binnen weniger Jahre in Deutschland 300 Syndikate, Kartelle und Konventionen entstanden waren. Achtzig von ihnen fallen auf den Handel und zweihundertzwanzig auf die Produktion. Sie haben viele Existenzen auf den Gewissen. Immer öfter beklagt sich der kleine Mittelstand über die rüden Methoden der neuen Kapitalassoziationen. Graf von Posadowsky ist darüber gut im Bilde. Ihm liegen genügend Klagen aus weiten Bevölkerungskreisen zur "schwer bedrückende(n) Kohleteuerung" vor. In den Regierungen, Preußen wird genannt, überlegt man wie man sie besser kontrolliert und gestaltet. Trotzdem will der Staatssekretär des Innern auf keinen Fall die modernen Triebkräfte der Wirtschaft hemmen oder zu alten Formen der Wirtschaft zurückkehren, räumt aber ohne Weiteres am 13. Dezember 1905 im Reichstag ein:
Angeblich versuchte man dieses Problem seitens der Regierung, durch eine entsprechende Steuergesetzgebung zu entschärfen, was von öffentlicher Seite zugegebenermaßen als wirkungslos eingeräumt wurde. Die "ungesunde Konkurrenz", von Karl Marx 1867 im Kapital Band I (790) einst mit dem Bonmot bedacht, je ein Kapitalist schlägt viele tot, soll im "Kohlenmarkt" wird durch Bildung von Kartellen und syndizierten Zechen pazifiziert. Hierzu organisiert das RWKS neue Formen der Produktionsabstimmung und des Absatzes, indem es die Unternehmen am Gesamtabsatz beteiligt, die jedes [Syndikats-] Mitglied erforderlichen Falls herabsetzen kann durch: [1.] Abstimmung der Kapazitäten, [2.] Festlegung der Preise und [3.] Gestaltung der Geschäftsformen und Mengen des Vertriebs. (Vgl. Otto Bartz 1913) Die deutsche Wirtschaft wandelt sich vom System der freien Konkurrenz zur monopolistischen Konkurrenz.
1914 ist im Ruhrbezirk bis auf 2 bis 3 Prozent die gesamte Kohlenproduktion im Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikat in Essen vereinigt (Grunzel 1914, 15). Die Syndizierung, Kartell- und Monopolbildung wirkt auf das System industrieller Beziehungen von Arbeiter und Unternehmer zurück. Industriemanager Emil Kirdorf (1847-1938) fordert 1905 auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik in Mannheim dazu auf, mit den Arbeiterorganisationen nicht zu verhandeln: Also keine Beziehungen zur Sozialdemokratie, auch nicht mit den außerhalb von ihr stehenden Organisationen, die noch schlimmer sind, weil sie ihre Pläne unter dem Mäntelchen christlicher Liebe und Eintracht versteckt halten. (Vgl. Der Gewerkverein Nr. 7) Die Verteilung des Volkseinkommens unterliegt beim Lohnarbeiter und Angestellten weiter den Gesetzen des Marktes, was die sozialen Unterschiede zwischen den sozialen Klassen vergrössert. Die daraus resultierenden sozialökonomischen Folgen sind Posadowsky gegenwärtig. Mit wachsendem Wohlstand entstehen, rechnet er vor, höhere Ansprüche an die Schulbildung, Kultur und materielle Lebenshaltung. Um sie zu befriedigen, verlangen binnen kurzem die Arbeiter und Arbeiterinnen nach einem größeren Anteil am Gewinn der industriellen Produktion. Moralisch ist dies grundsätzlich berechtigt. (Posa RT 12.12.1905, 240; RT 14.01.1904, 267) Doch was ändert dies faktisch? August Bebel wertet am 11. Dezember 1897 das Ergebnis des Monopolisierungsprozesses in der Wirtschaft kritisch, und dass, "....umso schlimmer, als heute, in einer Periode des größten wirtschaftlichen Aufschwunges, wo insbesondere in der Kohlenindustrie ein ausgezeichneter Geschäftsgang seit Jahren blüht, und Dividenden und Profite eingesackt werden, wie sie seit Jahrzehnten nicht vorgekommen sind, unsere Kohlenbarone also Millionen über Millionen einheimsen, und die Arbeitskräfte aus aller Herren Ländern bezogen werden, weil sie in Deutschland angeblich nicht zu haben sind, die Löhne nicht gestiegen sind, weil die Arbeiter nicht wagen dürfen, sich zu organisieren." Was wird aus dem Mittelstand? Sozusagen ad libitum merkt der Staatssekretär an, dass einiges geschehen muss, um das technische und kaufmännische Niveau der Ausbildung zu heben, also ihn möglich zu machen. Gleichwohl wirkt das unsicher, es klingt nach vertrösten. Von Anti-Trust-Gesetzen hört und ließt man nichts.
So
konnten die Petroleum-Monopolisten in Deutschland Die Standard Oil Company beabsichtigt in Deutschland weiter zu expandieren. Zunächst scheint es zweckmäßig, um die Reaktionen von Graf von Posadowsky zu verstehen, einen kurzen Überblick über die Lageentwicklung auf dem Petroleum-Markt zu geben. Die Öffentlichkeit beschäftigen der Konkurrenzkampf und die Auswirkung auf die Preisbildung. "Im Jahre 1895 waren die Versuche, den Petroleumhandel vollständig zu monopolisieren, fast bis zum Abschluss gediehen. Die Welt war zwischen den amerikanischen und russischen Petroleumproduzenten bis auf die letzte Insel im Weltmeere aufgeteilt worden." Die amerikanische Standard Oil Company bediente die atlantischen Länder einschließlich Deutschland, während die russischen Petroleumkönige außer in Russland, Ostafrika und Asien über ein fast unumschränktes Absatzfeld herrschten. "Der Vertrag wurde so prompt ratifiziert, dass in Ostasien der amerikanische Import von 74 pCt in 1894 auf 55 pCt in 1995 sank, der russische dagegen von 26 auf 55 pCt anstieg. Als strittiges Terrain waren nur noch die Mittelmeer-Länder verblieben. Aber auch hier war bald eine Einigung erzielt. Italien verblieb bei Standard Oil Company, Österreich, soweit es nicht dem vorzüglichen galizischen Petroleum versorgt wurde, wurde zum alleinigen Absatzfelde der Russen."
Eine Ausnahme bildete die Firma Philipp Roth, die in Mannheim eigene Tankanlage herstellte und versuchte den süddeutschen Raum zu erobern. Ein aussichtsloser Kampf, in dem der Unternehmer schließlich unterlag und seine Firma in der Mannheim-Bremer Petroleumgesellschaft als eine Filiale der Deutsch-Amerikanischen aufging. "Lange Zeit schien es, als ob die Nobel-Gesellschaft nicht gemeinsames Spiel mit den Rockefeller, Rothschild und der russischen Regierung machen wolle. Um sie zu beschwichtigen, überließ man ihr das Reservatrecht der Alleineinfuhr nach Deutschland, was in Anbetracht der technischen Bedeutung russischen Schmieröles ein recht lukratives Geschäft ist. Aber auch ihr Trotz scheint definitiv gebrochen zu sein; denn die Einfuhr russischen Leuchtöls sank in den ersten 9 Monaten dieses Jahres auf 187 000 Doppelzentner gegenüber 275 000 Doppelzentner im gleichen Zeitraume des Vorjahres."
Ein guter Teil der Geschichte des Petroleum-Monopols spielte sich in Deutschland auf dem strittigen Terrain der einst feindlichen, jetzt friedlich vereinten Brüder statt. Das Land verbraucht etwa ein Drittel des gesamten amerikanischen Leuchtöl-Exports für sich allein, einschließlich des Schmieröls, leichterer Petroleumdestillate, von Massuth (Naphta-Rückstände), zirka 1/8 der Produktion der ganzen Welt. Eine nationale Erdölförderung kam trotzdem nicht in Betracht, weshalb Deutschland auf Importe angewiesen ist. Eigentlich hätte die deutsche Regierung jeden Monopolisierungsversuch der Rockefeller und Rothschilds von vornherein einen Riegel vorschieben müssen. Denn die Einigung der großen Erdölmagnaten geschah nicht von heute auf morgen, sondern im Resultat eines mörderischen Konkurrenzkampfes. Doch die deutsche Regierung blieb untätig, was eine "stumme Begünstigung" bedeutete. "So konnten die Petroleum-Monopolisten in Deutschland schalten und walten wie in einem eroberten Land." Die deutsche Reichsregierung ist deshalb nicht unschuldig an dem Zustandekommen des Petroleum-Weltmonopols. (Nach: Neues vom Petroleum-Monopol, 1897)
Die
Amerikaner Im Reichsschatzamt oft mit Strukturen und Folgen monopolistischer Konkurrenz konfrontiert, setzt sich Graf von Posadowsky in der
(RT 113ff., 115) speziell mit der Expansion der Standard Oil Company in Deutschland auseinander. Er erinnert sich an das Jahr 1895. Es traten große Schwierigkeiten mit der Preisbildung auf. Immerhin sanken jetzt mit der Gründung der Filiale der Standard Oil Company, der deutsch-amerikanischen Petroleumgesellschaft in Bremen, die Preise für den Konsumenten. Das ist anzuerkennen. Das ist erfreulich und ein Erfolg des technischen Fortschritts bei der Gewinnung, Organisation des Handels und Verteilung ihres Produkts. Wir sind auf das Petroleum von Amerika "absolut angewiesen", rundet am 22. Februar 1906 im Reichstag Eduard Bernstein (SPD) es ab, weil uns Rußland nicht versorgen kann. Und es ist dabei zu beachten, dass es als Leuchtmittel und Heizmaterial einer großen Klasse von Arbeitern dient, speziell auch den Heimarbeitern, die darauf angewiesen sind und Preiserhöhungen nicht vertragen. Dann kommen kurz die Ereignisse um die deutsche Mannheimer Gesellschaft zu Sprache. Eine Erklärung, die ein Vertreter der deutsch-amerikanischen Gesellschaft verfasst, wird verlesen. Nach seiner Ansicht ist unbedingt davon abzuraten, dass die Mannheimer noch weitere Vertragsabschlüsse anstrebt. Damit erscheint ihm aber das volkswirtschaftliche Problem nicht gelöst. Bei der großen Preissteigerung 1895 kam bei Posadowsky die Frage auf, ob es denn nicht richtig und notwendig wäre, die deutschen Firmen in Mannheim und Bremen zu unterstützen. Zur Vorbereitung des Eisenbahntransports und zur Anschaffung großer Tankschiffe für die Ozeane und Flüße wäre dazu viel Kapital notwendig. Das Risiko wäre für den Staat zu groß gewesen, weil unklar, was die Standard Oil Company unternehmen wird, womit der Erfolg keineswegs sicher war. Die Presse-Kritik am zögerlichen und ausbleibenden Handeln der Reichsregierung, betont Posadowsky, ist "vollkommen unberechtigt". Freilich ist demnächst zu erwarten, daß die Amerikaner ihr Monopol in Deutschland weiter ausdehnen und möglicherweise unbillige Preissteigerungen herbeiführen werden. Zur Lösung der Probleme unterbreitet eine Reihe von Vorschlägen:
Das ist bereits in der Weise geschehen, dass die Zollabfertigung des russischen Öls nach Volumen und nicht nach Gewicht erfolgt, weil es bekanntlich ein größeres spezifisches Gewicht aufweist als das amerikanische. Trotz dieser Begünstigung ist die Einfuhr des russischen Öls rückläufig. "Welche Mittel könnten wir nun weiter ergreifen, um dem russischen Petroleum die Versorgung des deutschen Marktes zu erleichtern." Man könnte einfach den Flammpunkt des Öls erhöhen, womit das minderwertige amerikanische Öl ausgeschlossen würde. Allerdings wäre dies mit preislichen Opfern der deutschen Konsumenten verbunden. Außerdem könnte man der Raffination des Petroleums für den Eigenverbrauch nach Deutschland verlegen. Dazu müsste eine Zolldifferenz zwischen Roh- und raffinierten Petroleum eintreten. Damit wäre sicher eine Verteuerung verbunden. Ein weiteres Problem entsteht dadurch, daß die Produkte zu den Nebenprodukten der Braunkohleindustrie in Konkurrenz treten würden. Eine andere Möglichkeit, um das russische Petroleum zu begünstigen, wäre einfach, die Gebühren für die Eisenbahnfracht herabzusetzen. Seit dem 5. Oktober 1897 ist für den Transport des Mineralöls von Alexandrowo zu den deutschen Stationen der Ausnahmetarif Nummer 20 gültig. Die Beförderung von raffinierten russischen Petroleum erfolgt in Wagenladungen von je 10 000 Kilogramm. Desweiteren soll Spezialtarif Nummer 3, schlechtweg der billigste Tarif für Rohprodukte in Preußen, Anwendung finden, womit sich die Frachtkosten um ein Drittel verringern. (Vgl. Posa RT 9.12.1897, 126) Schließlich wäre es möglich, die Zölle für das Öl des amerikanischen Trusts zu erhöhen. Im Fall der amerikanische Konzern mißbraucht seine Macht, dann könnte die deutsche Landwirtschaft die Spiritusproduktion erhöhen. "Meine Herren, ich meine," fasst Posadowsky zusammen, "wir haben immer noch, wenn auch wie ich angedeutet habe, beschränkte Mittel, gegen eventuelle Mißbräuche der Standard Oil Campany zu kämpfen, selbst wenn uns dieser Kampf vorübergehend gewisse Opfer auferlegen sollte."
Der
"Sozialismus ist ihm Die Sozialdemokraten, so sagen sie, sind an der Konservierung überlebter Wirtschaftsformen nicht interessiert und sind offen für Veränderungen, stehen den modernen Assoziationen nicht feindlich gegenüber. Sie feuern Staatssekretär Posadowsky noch an, alle Kräfte freizumachen, "die heute noch gebunden sind". Andererseits möchten sie noch immer den Kapitalismus beseitigen, weil die Privatbetriebe "nur Rücksicht auf den Vorteil der Kapitalbesitzer" nehmen, "nicht" aber "auf das Interesse der Gesamtheit". "Das begreift Graf Posadowsky nicht. Seine Einsicht ist äußerst kurzsichtig", urteilt am 16. Dezember 1904 der sozialdemokratische Vorwärts aus Berlin.
Nicht "verschlossen", er lehnt ihn schlicht ab. Besonders im Gespräch mit den Sozialdemokraten bringt er seine Argumente und divergierenden Zielvorstellungen vor. Die Arbeiter wollen, zitiert er 15. Dezember 1905 im Reichstag August Bebel, "nichts als gleiches Recht". Und es soll ihnen weiter "auch auf allen wirtschaftlichen Gebieten gleiches Recht zuteil" werden. "Das wird", ihm zufolge, "in diesem hohen Hause auch von keiner Seite bekämpft." Prompt kommt, was kommen muss: Protest, kurze, impulsive Gegenrufe. Den Aufbau seiner Argumentation stört es nicht: Das Bestreben der Sozialdemokraten nach gleichem Recht stimmt, was paradox anmutet, nicht mit dem überein, was sie in ihrem Programm, und nicht nur dort, sondern in Hunderten von Presseerklärungen fordern: die Herrschaft des Proletariats. "Sie wollen die Klassenherrschaft beseitigen, gleichzeitig aber eine andere Massenherrschaft an ihre Stelle setzen." "Die Herrschaft des Proletaritas schließt aber das gleiche Recht gegenüber anderen Gesellschaftsklassen aus. (....) Sie wollen die Klassenherrschaft beseitigen, gleichzeitig aber eine andere Massenherrschaft an ihre Stelle setzen. (....)" - Nennen wir dies, den machtpolitischen Einwand gegen den Sozialismus. Es gibt einen Zweiten, den wirtschaftspolitischen Einwand. In Deutschland organisieren sich nach 1918 soziale und politische Bewegungen und Parteien, die die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, Einführung von Arbeiterräten und Schaffung eines gerechteren Steuersystems fordern. Graf von Posadowsky befürchtet, das man den Bürgern "durch eine kommunistische Gesetzgebung und ein ebensolches Erbrecht den Ansporn" nimmt, "sich wirtschaftlich emporzuarbeiten". "So versperrt man damit allen Tüchtigen die freie Bahn und lähmt schließlich das gesamte Wirtschaftsleben." (Zum Nachdenken 1923) Ein dritter Einwand richtet sich gegen das Paradigma von der Parallelität der Entwicklung von Wirtschaft und Staat. Die Steilvorlage dafür liefert am 20. Januar 1898 der SPD-Abgeordneten Carl Legien (1861-1920). Er tat eine Äußerung, "die mich außerordentlich gefesselt hat", sagt Posadowsky im Plenum des Reichstags: Er sagte die notwendige Entwicklung des Staates unter Teilnahme des Volkes von der konstitutionellen Monarchie zur geordneten Volksvertretung in der Republik voraus. "Parallel deduzirt" er, dass aus "der absoluten Verfügung des Fabrikherrn, des Unternehmers über seine Anlage", die "kollektivistische Produktion" hervorgeht. "Meine Herren, es ist mir zweifelhaft, ob diese Deduktion thatsächlich richtig ist, und ob überhaupt diese beiden Entwicklungen auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete vollkommen parallel nebeneinander laufen." (Posa RT 20.1.1898, 548) Er hebt damit die Frage der Vergesellschaftung der Produktion an. Entgegen allen optimistischen Erwartungen traten nach 1918 in der Sowjetunion und nach 1945 im osteuropäischen Sozialismus bei der Entfaltung der ökonomischen Triebkräfte und der Demokratisierung von Produktion Rückschläge, Widerstände und Stagnation auf. So lebt hier sein Einwand gegen die Parallelität der Entwicklung zwischen Staat und Ökonomie wieder auf. Die Sozialismus-Kritik mündet in die Schlußfolgerung: "Eine Herrschaft des Proletariats kann und darf es nicht geben .... " "In jedem Staate" muß "das regierende Element die bürgerliche Gesellschaft" sein". (Posa RT 15.12.1905, 358)
Tuberkulose-Bekämpfung - Mechanisierung des Weltbildes - Einbruch der Rassenhygiene zurück
Altruistisch, außerhalb seiner administrativen Zuständigkeit, engagiert sich Graf von Posadowsky in der nationalen Gesundheitserziehung und der sozialen Prävention von Krankheiten. Er will nicht nur Helfer in der Not sein, sondern die Gesundheit der Bevölkerung aktiv fördern. Die Sozialpolitik erschöpft sich für ihn nicht in der Installation der Krankenversicherungs- und Rentengesetzgebung. Der Geist von Freiheit und Wohlstand muss sich in der Prophylaxe bewähren. Auf der staatlichen Ebene, also für staatliches Handeln, bildete eine statistische Analyse zur Verbreitung der Tuberkulose in Deutschland die Grundlage. Darauf gestützt leitet Graf von Posadowsky in der Rede zur "Bekämpfung der Tuberkulose" vom 18. Januar 1899 (64) die Erkenntnis ab, "dass mit der wachsenden besseren Lebenshaltung der ärmeren Volksklassen ein allmählicher Rückgang der Turbekulose eintritt." Noch rafft die Tuberkulose jedes Jahr Tausende dahin. Die Erkrankungsraten sind noch immer erschreckend hoch. Jetzt will man der Krankheit verstärkt mit der Heilstättenbewegung zu Leibe rücken. Auf der
setzt sich Posadowsky dafür ein, den Mangel an Kranken- und Genesungsheimen für die Tuberkulösen bald möglichst zu beseitigen. Die Elfte Generalversammlung des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose lädt Posadowsky zum 23. Mai 1907 nach Berlin ein. In seinem Eröffnungsreferat charakterisiert er die Lungenkrankheit als soziale Krankheit, die biologische, hygienische und sittliche Ursachen hat und oftmals in ärmlichen Lebensverhältnissen gedeiht. Ein präventives Handlungskonzept erfordert daher ebenso den Kampf gegen das noch bestehende menschliche Elend. Die Regierung unterstützt die Kranken, die in den Familien und Heilstätten gepflegt werden. Vor allem im ersten Stadium der Erkrankung konnten große Therapieerfolge errungen werden. "Wir sind bemüht," fast der Gastredner die staatlichen Bestrebungen in diesem Feld zusammen, "ein gesundes, arbeitsfrohes und lebensfrohes Geschlecht zu erziehen." Dies waren bei Weiten nicht die einzigen staatlichen Maßnahmen. 1899 soll, worüber Posadowsky (1908, 62-64) informiert, beim Reichsgesundheitsamtes eine biologische Abteilung als Stätte der freien Erforschung gewisser Naturerscheinungen entstehen. Das Reichsgesundheitsamt wurde 1876 als eine technisch-beratende Behörde gegründet. Im Jahr darauf sollten nach Ansicht der Sozialdemokraten die Reichsarbeitsinspektoren unterstellt werden, (Rudloff 2021, Sozialstaat im Werden 2021, 59). Nach einem Gesetzesentwurf von 1885 soll das Reichsgesundheitsamtes dem Reichsarbeitsamt zugeordnet werden. Das Reichsamt des Innern stellt 1907 in den Nachtragsetat für das Institut zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit in Berlin eine Summe von 40000 Mark ein. Zweifellos, worauf Justizrat Willy von Dirksen (*1856) hinweist, eine Leistung auf sozialpolitischem Gebiet, die nicht unterschätzt werden darf. (Dirksen RT 11.3.1907, 373) Noch zieht der Fortschrittsglaube "den Wagen der Ethik", erblickt dies Glück Albert Schweitzer in "Kultur und Ethik" (1971, 190), und sie braucht nur mitzulaufen. Es währt aber nicht mehr lange. Einige Intellektuelle verschiedener Couleur sind tüchtig dabei, die Gesellschaftsmoral als Erscheinung der Macht einzutüten. "Sittlich ist derjenige," lehrt Anton Menger (1905), "der sich den sozialen Machtverhältnissen anpasst, unsittlich wer gegen sie Widerstand leistet." Die Moralentwicklung droht hinter dem technischen Fortschritt zurückzubleiben. Geblendet von der imposanten Illusion der Vorherbestimmtheit und Berechenbarkeit der Welt, opfert sie sich der Mechanisierung des Weltbildes, dem Laplaceschen-Geist. Vom Gefühl der Seelenlosigkeit des Apparats bereitet sich Verlorenheit und Ohnmacht aus. Durch die Industriekultur fegt der Hurrikan des Scheinoptimismus. Die Welt erscheint berechenbar und beherrschbar. Nur wenige wiedersetzen sich dieser gefährlichen Illusion. Zu ihnen gehört der Physiologe Emil Du Bois-Reymond (1818-1896). Am 14. August 1872 spricht er auf der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig über die "Grenzen der Naturerkenntnis". Den Scheinoptimisten hält er entgegen, dass das Wesen von Materie und Kraft und des menschlichen Bewusstseins unerkannt: Ignoramus et ignorabimus - Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen. 1899 forciert das populäre 500-Seiten-Buch über "Die Welträtsel" von Ernst Haeckel die Hoffnung des ontologischen Reduktionismus, dass der Monismus die Zahl der großen Fragenzeichen verringert. Für die Technokraten existieren nur noch Steuerungs-, aber keine Ziel- und Wertprobleme mehr. Moral erscheint überflüssig, was die Ideale des sittlichen Verhaltens zum Amoralischen verschiebt. Unter dem Einbruch der Rassenhygiene in die Vererbungslehre, Anthropologie, Psychiatrie, Sozialmedizin, Geriatrie, Gesundheitsverwaltung und Sozialpolitik wandelt sich die medizinische Denkkultur. Entgegen dieser Tendenz, die in den "Verrat an den Kranken" mündet, verteidigt Graf von Posadowsky den sozialen Raum der Grundwerte - Würde, Toleranz, Hilfe und Schutz des menschlichen Lebens - und wendet sich damit gegen das Prinzip der Auslese, den Kampf um´s Dasein und die aufkommende Rassenhygiene. Der Aufbau einer neuen Humanitätsgesinnung, die "Ehrfurcht vor dem Leben" im Sinne von Albert Schweitzer, verdrängt 1914 der Große Krieg.
Graf
Posadowsky hat die Schlacht Die Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Reichstages lehnt am 20. November 1899 in zweiter Lesung - gegen die Stimmen der Konservativen - den Entwurf des Gesetzes zum Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältnisses ab, worauf in der sozialdemokratischen Fraktion sichtbare Freude und Heiterkeit ausbricht. Es war ein Erfolg im Kampf um das Streik- und Koalitionsrecht, das unter der Rubrik
in der Geschichte der Arbeiterbewegung einen festen Platz gefunden hat.
Streiks, Aussperrungen, Arbeitswillige
Im letzten Jahrzehnt nahm in Deutschland die Streikbewegung immer größeres Ausmaß an. Preußen registrierte vom 1. Oktober 1895 bis 1. April 1896 71 Streiks mit 3861 Ausständigen. Vom 1. April 1896 bis 1. Oktober 1896 waren es 304 Streiks mit 51 309 Streikenden. Unvergessen bleibt der am 1. Mai 1889 spontan, ohne zutun der Gewerkschaften auf der Großzeche Prosper II in Gelsenkirchen aufflackernde Massenstreik, der dann schnell auf schätzungsweise 80 000 beteiligte Bergleute anwuchs. Ebenso hinterließ der Hamburger Hafenarbeiterstreik 1897/98 in der Öffentlichkeit und bei den Arbeitgebern einen tiefen Eindruck. Der Centralverband deutscher Industrieller (CDI) will ihn verhindern. In einer Eingabe an den Kaiser und den Reichskanzler unterbreitet er den Vorschlag zum
Die Vertreter der Regierung stützen sich, was vorab aller weiteren Details zum Zweck der Allgemeinverständlichkeit erwähnt werden muß, auf die Auseinandersetzung Arbeiter gegen Arbeiter, die häufig darauf zurückzuführen war, den Beitritt der nicht organisierten Kameraden zu den Arbeiterkoalitionen zu erzwingen. "Die Arbeiterbewegung der letzten Jahre", heißt es in der Denkschrift zur Zuchthausvorlage 1899, hat "in beträchtlichen Maße strafbare Ausschreitungen im Gefolge gehabt." Über einige Ereignisse dieser Art berichtet am 8. Juni 1899 ausführlich die sozialdemokratische "Volksstimme" aus Magdeburg. Hiernach waren 1896 allein bei der Staatsanwaltschaft I Berlin unter Berufung auf Paragraph 153 der Gewerbeordnung 124 derartige Verfahren anhängig. Das Spektrum der Ausschreitungen umfasste heftige Beleidigungen, schlimme Schmähungen, gefährliche Drohungen und Gewalttätigkeiten. Während der letzten großen Bergarbeiterausstände im rheinisch-westfälischen Kohle- und Saalerevier wurden wiederholt Dynamitanschläge, darunter drei auf Eisenbahnzüge, verübt." Aus einigen Orten sind Ausschreitungen gegen Arbeitgeber (Sachbeschädigung, Beleidigungen, Hausfriedensbruch, Bedrohungen, Mißhandlungen, Erpressungsversuche) bekannt.
Bielefelder-Rede, 17. Juni 1897 Die Gegner der Arbeiterbewegung sprachen von "sozialdemokratischen Terrorismus". Aus dieser Perspektive betrachtet, erschienen staatliche Regulierungen und Eingriffe notwendig.Kaiser Wilhelm II. greift, trotz der Bedenken, die in seinem persönlichen Umfeld geäußert wurden, frontal in die Streikkonflikte ein. Am 17. Juni 1897 fordert er in Bielefeld den "Schutz der nationalen
Arbeit aller produktiven Stände Ziel war es, die Tätigkeit von Streikposten zu unterbinden und jeden mit Zuchthaus zu bestrafen, der zum Streik aufreizte. Diese Drohungen nehmen im Gesetzesentwurf vom 26. Mai 1899
folgende Form an:
Die Bielefelder-Rede erregte Aufmerksamkeit und löste eine Vielzahl öffentlicher Reaktionen und Proteste aus. Um das Gesetz zum Schutz der Weiterarbeitenden, wie es im Alltag ironisch genannt wurde, entbrannte eine heftige öffentliche Diskussion.
Geheimes Rundschreiben
Am 11. Dezember 1897 versendet der Staatssekretär des Reichsamtes des Inneren Arthur Graf von Posadowsky-Wehner ein geheimes Rundschreiben an die Regierungen der deutschen Einzelstaaten. Darin legt er den Empfängern nahe zu prüfen, ob gesetzliche Maßnahmen gegen das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit angezeigt sind, wörtlich: "In letzter Zeit ist in der Tagespresse und Fachliteratur wie in Vereinsver-sammlungen die Frage lebhaft erörtert worden, ob nicht angesichts der durch die Arbeiterbewegung der letzten Jahre gelieferten Erfahrungen von der Gesetzgebung ein erhöhter Schutz gegen Missbrauch der durch § 152 der Gewerbeordnung gewährleisteten Koalitionsfreiheit zu verlangen sei." In der Debatte darüber sind mehrfach Bestimmungen als erforderlich bezeichnet worden, die bereits durch die verbündeten Regierungen im Jahr 1800 in den Entwurf der Gewerbe-Ordnungs-Novelle zur Verschärfung des Paragraphen 153 eingebracht, aber zum Teil aus Bedenken grundsätzlicher Art abgelehnt wurden. Posadowsky bittet weiter zu überdenken, ob arbeitswilligen Personen gegen Vergewaltigung und Einschüchterung seitens der Ausständigen kräftigerer Schutz als bisher gewährt werden kann. .... Der Verfasser des Rundschreibens bittet freundlich um Äußerung, damit beim nächsten Zusammentreffen im Reichstag eine neue Vorlage vorgestellt werden kann.
Veröffentlichung im "Vorwärts" Den Sozialdemokraten gelang es, daß Rundschreiben in die Hände zu bekommen und am 15. Januar 1898 im Vorwärts (Berlin) zu veröffentlichen. Es war ein Knall zur rechten Zeit, ein Signal für Protest und Widerstand gegen jede Unterdrückungspolitik und jeden Versuch, die Dynamik der Sozialpolitik auszubremsen. "Eine gouvernementale Wahlmacherei plumpster Sorte", schimpft am 9. Juni 1898 die Arbeiter-Zeitung aus Wien, "beleuchtet grell die Ziele des neuesten Kurses der deutschen Reichspolitik." Dieser "echte Sohn Ostelbiens" ist nichts Anderes "als der
August Bebel macht dem politischen Gegner am 19. Juni 1899 (2644) im Reichstag nicht viel Hoffnung, mit diesem Angriff auf das Koalitionsrecht durchzukommen:
Das sozialdemokratische Zeitung für Salzburg vom 6. November 1899 befürchtet, dass durch das Zuchthausgesetz, die Geldsäcke der Großindustriellen leichter gefüllt werden sollen. Rosa Luxemburg (1871-1919) wirft Posadowsky in Sozialreform oder Revolution? (1899) vor, ein Attentat auf das allgemeine Reichstagswahlrecht begehen zu wollen. Friedrich Naumann (1866-1919) wendet sich 1899 in einem Vortrag gegen die Zuchthausvorlage. Felix Fechenbach (1894-1933) erkennt vierzig Jahre später in der Veröffentlichung des Geheimpapiers einen schweren "Schlag für die sozialpolitischen Rückschrittler." Wohl könnte man sagen, dass der Kaiser am 17. Juni 1897 mit der Bielefelder Rede den Impuls zu diesem Rundschreiben gab.
Emanuel Wurm, 17. Januar 1898 Ihr Programm heißt "Vernichtung der Gewerkschaften", attackiert am 17. Januar 1898 (459-462) SPD-Reichstagsabgeordnete Emanuel Wurm (1857-1920) den Staatssekretär des Innern Graf von Posadowsky im Plenum des Reichstags. Unter dem Vorwand der Ausschreitungen, w0llen sie die Arbeiter knebeln. "Sie [Posadowsky] haben außerdem jede Gelegenheit wahrgenommen, den Arbeiterkoalitionen das Leben so schwer wie möglich zu machen", und sie wollen "die Streiks einschränken, das heißt, die gewerkschaftlichen Organisationen, die Vereinigung der Arbeiter wehrlos machen", also "den Arbeitern das Koalitionsrecht rauben". Dazu soll der Paragraph § 153 der Gewerbeordnung verschärft werden. Das Gesetz will das Aufstellen von Posten verbieten. Die Zugänge sollen nicht überwacht werden dürfen. "Der Arbeiter soll also nicht mehr das Recht haben, seinem Kameraden zu sagen: - sei kein schlechter Mensch, sei kein Streikbrecher, falle uns nicht in den Rücken, tritt mit uns zusammen für unsere Kameraden ein! Nicht einmal das wollen Sie mehr dulden." (Wurm RT 17.1.1898, 460 bis 462) "Wenn der Abgeordnete Wurm sagte, wir wollten die Koalitionsfreiheit der Arbeiter unterdrücken," entgegnet Posadowsky in derselben Sitzung, "so hätte er doch die Güte haben sollen" den Passus vorzulesen wo es heisst
Untersagt werden sollen jedoch unerlaubte Regeln und Handlungen, wozu die Anwendung von Paragraph 153 der Gewerbeordnung von 1890 zweckmäßig erscheint. Denn in Deutschland sollen keine englischen Verhältnisse einreißen. "Dort komm es soweit, daß, wenn die Arbeiter einen Streik beschließen, ein Unternehmer gezwungen wird, den Arbeiter, der noch arbeiten will, zu entlassen, und daß dann entschieden wird, dieser Unternehmer habe unter solchen Verhältnissen einen berechtigten Grund gehabt, den Arbeiter zu entlassen. Dann ist allerdings nicht mehr der Fabrikbesitzer Eigenthümer seiner Fabrik, sondern die Fabrik wird hier thatsächlich ein Kollektiveigenthum der Arbeiter." Posadowsky betrachtet es noch unter dem Gesichtspunkt des Wahlkampfes:
".... ich lese ..... heute im "Vorwärts" einen Artikel, der vom Wahlkampf spricht und mit den Worten schließt:
Solche Redensarten lassen mich absolut kalt. (Bravo! rechts.) Wir haben keine Angst; wir wissen, was wir wollen, und wir werden unsere Maßregeln im Nothfalle auszuüben auch die Kraft haben. (Bravo! rechts. Heiterkeit links.)" (Posadowsky RT 17.1.1898)
Reichstags-Debatte, 20. Januar 1898 "Eine Anzahl Forderungen, die Sie stellen," kommt am 20. Januar 1898 (547) Posadowsky dem Vertreter der SPD-Fraktion Emanuel Wurm entgegen, "sind sachlich durchaus berechtigt; Sie verlangen aber viel zu viel auf einmal. Kein Staat, keine Gesellschaft kann alle diese Forderungen, selbst, soweit Sie sie in berechtigtem Umfange stellen, auf einmal erfüllen; dazu fehlen schon die Organe, und manche der Forderungen können nur erfüllt werden mit der zunehmenden allgemeinen Kultur und mit der steigenden Wohlhabenheit des Landes."
Reichstagswahlen 1898 Im Wahlkampf für die Reichstagswahlen am 16. Juni 1898 mobilisiert die SPD weiter gegen die Zuchthaus-Vorlage.
Deutschkonservative, Freikonservative und Nationalliberale mußten Verluste hinnehmen. Die Sozialdemokraten wurden mit 2 Millionen Stimmen die stärkste Partei. Doch bedingt durch Besonderheiten der Wahlkreiseinteilung erhielten sie lediglich 56 Sitze, hinter dem Zentrum mit 102 Sitzen rangierend, der zweistärksten Partei. Kanzler Hohenlohe-Schillingsfürst stützt sich auf die Zustimmung des Zentrums. 1900 gelang es den Sozialdemokraten, Liberalen und Zentrum bei der Abstimmung zur Umsturzvorlage das Sonderstrafrecht gegen Arbeiter und Gewerkschafter zu verhindern.
Oeynhausener Trinkspruch, 6. September 1898 Während des Gastmahls am 6. September 1898 im Kurhaus Oeynhausen für die Provinz Westfalen bringt Wilhelm II. folgenden Trinkspruch aus:
August Bebel berichtet am 15. Dezember 1898 (104) im Reichstag, über erneute Drohungen gegen die Streikenden und von Repressionen der Staatsorgane: "Seit den Reden in Bielefeld und Oeynhausen urtheilt ein großer Theil unserer Richter geradezu wie auf Kommando, als wären sie nunmehr verpflichtet, mit den drakonischsten Urtheilen gegen Arbeiter, die bei einem Streik sich ein Vergehen zu Schulden kommen lassen, vorzugehen." Im Juni 1899 protestieren in Berlin und Leipzig Bürger und Arbeiter gegen die Zuchthausvorlage. Am 8. Juni 1899 ruft die Leipziger Volkszeitung auf: "Zum Massen-Protest // fordert heraus // die Zuchthausvorlage. // Für Sonntag den 11. Juni lautet der Weckruf: // Auf nach Stötteritz! [in Leipzig] // Hoch das Koalitionsrecht der Arbeiter!" Jedermann war sich nach der ersten Lesung des Gesetzes vom 19. bis 22 Juni 1899 und zugehöriger Debatte im Reichstag darüber im Klaren, entsinnt sich Posadowsky am 11. Dezember 1900, dass es nicht mehr angenommen würde, weil, indem die sozialdemokratische Presse immer wieder predigte, dieses Zuchthausgesetz soll jeden Arbeiter bestrafen, der es wagt zu streiken, und verschwieg, dass nur derjenige bestraft werden sollte, der ungesetzliche Mittel gegen die Arbeitswilligen anwendet, und das sich dieses Gesetz ebenso gegen den Terrorismus der Arbeitgeber richtete, eine riesen Gegenkampagne entstand. Weiter beruhen die Paragraphen des Gesetzesentwurfs, argumentiert Posadowsky, auf dem Grundsatz der Gleichheit, das heisst: "Das Recht jeden einzelnen Arbeiters, der arbeiten will, gilt ebenso viel wie das der übrigen Arbeiter, welche nicht arbeiten wollen." (389) Weil man diese Tatsachen verschwiegen hat, bricht es aus ihm heraus,
Entgegen dem Anliegen interpretierte die sozialdemokratische Presse Teile des Gesetzesentwurfs zum Schutz der Arbeitswilligen einseitig, indem sie propagierte: Er war nicht zum Besten der Arbeiter. Er war zum Besten der Arbeitgeber. So gelang es der 12 000-Mark-Kampagne die öffentliche Wahrnehmung dahingehend zu verschieben, dass es nun hieß, es war ein Gesetzesentwurf allein zugunsten der Unternehmer, und man erbat dazu von ihnen einen Beitrag für die Agitation.
Streit um das Koalitionsrecht
Der Schlüssel zum Verständnis der Ambitionen von Staatssekretär Graf von Posadowsky in der Zuchthaus-Affäre ist seine Haltung zur Koalitionsfrage. "Die Scharfmacher", mahnt 1914 Wolfgang Heine (1861-1944) in Schutz dem Koalitionsrecht,
Frage, gehörte Posadowsky zu den Scharfmachern? Er versteht sich so nicht, wenngleich im Konfliktfall eine Selbstdefinition aus naheliegenden Gründen nicht das Zünglein an der Waage sein kann. Andererseits hat der Angegriffene ein Recht darauf, dass Vorgänge, selbst wenn die Erkenntnis oftmals von unterschiedlichen Interessen unterliegen, auf die Sache bezogen beurteilt werden. Deshalb müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass im Geheimbrief vom 11. Dezember 1897 die Formulierung tatsächlich lautet:
Folglich stellt Posadowsky in der Reichstagsdebatte am 17. Januar 1898 zurecht in Abrede, dass sein Anliegen "gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter" gerichtet ist. Den "Vorwärts" (Berlin) lässt das kalt und erhebt unbeirrt weiter den Unterdrückungs-Vorwurf.
Erste Lesung 19. Juni 1899 Posadowsky trat für die Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Unternehmer und ArbeiterInnen, also gegen ein absolutistisch verfasstes Arbeitsverhältnis ein. Nicht müde, wiederholt er am 19. Juni 1899 (2638) im Reichstag aus Anlass der ersten Lesung der Zuchthausvorlage seinen mit 54 787 Einwohnern zur Koalitionsfrage:
Die Textstelle vom "Terrorismus der Ausständigen" im Brief vom 11. Dezember 1897, expliziert er weiter, ist nichts anderes als die wörtliche Übernahme einer Stelle aus der Petition, die der deutsche Innungsverband an den Bundesrath und den Reichskanzler gerichtet hat. Er beharrt (RT 17.1.1898) darauf:
Dann erhält das Plenum Informationen über Vorkommnisse zwischen den Ausständigen und Arbeitswilligen. Zu Beispiel als am 1. November 1897 der Streik im pommerschen Torgelow ausbrach, drangen von dort über den Ablauf verschiedene Nachrichten in die Öffentlichkeit. Einige befassen sich mit Gewalttätigkeiten und Drohungen gegenüber den Arbeitswilligen. Man kann den Streikenden nicht übelnehmen, kolportierte der Arbeiter-Meinungsstrom, dass man ihnen nicht freundlich gegenübersteht. Unter Bezugnahme auf einen Fall, hieß es, "der Mann wäre wahrscheinlich am Schlage verstorben." Über diese Zustände wenden sich einige Arbeiter mit einem Brief an Graf von Posadowsky. Am Abend des 10. Januar (1898) wurden sie auf dem Heimweg von Ausständigen überfallen. Und schildern weiter, wie ihre Angreifer einheitlich geleitet und organisiert handelten. Ungefähr 60 an der Zahl. Auf Zeichen des Anführers starteten sie die Überfälle. In einer anderen Gegend, auf dem Weg von Aschersleben führten zwanzig Streikende einen Überfall aus. Ähnlich trug es sich bei Stollberg in Harz zu. Erst ein Arbeiter, dann zwei und zuletzt vier, wurden mit starken Knüppel misshandelt, wobei einer mit dem Namen "Arndt" erschlagen wurde.
betont Posadowsky in Abgrenzung zur Äußerung des SPD-Abgeordneten Paul Singer (1844-1911). Im letzten Jahr, zitiert er die Worte eines Vorredners, gab es 7 000 Unfalltote "auf dem Schlachtfeld der Arbeit". Vom politischen Gegner heisst, "nun sieht man, wie es in Deutschland zugeht,
müssen die Arbeiter über die Thür schreiben:
Posadowsky betrauert den Tod dieser Menschen, "die auf dem Feld der Arbeit ehrenhaft gefallen sind". Und doch wurde mit Einführung der Unfallversicherung etwas für die Witwen und Kinder getan. (Posa RT 20.1.1898, 547/548) Nach Posadowsky erhält August Bebel das Wort. Ohne Umweg kommt er zur Sache: Es handelt sich bei der Vorlage nicht um einen Gesetzesentwurf zum Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältnisses. "Namentlich ging aus den Ausführungen des Herrn Grafen von Posadowsky deutlich hervor, daß es sich eigentlich um ein verstecktes Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokraten handelt." "Das wäre nun allerdings, wenn Sie glauben, mit diesem Gesetzesentwurf der Sozialdemokratie irgendwie zu Leibe gehen zu können, die größte Thorheit, die sie zu begehen vermöchten. Denn, meine Herren, täuschen sie sich nicht. Mit diesem Gesetzesentwurf werden sie gegen die Sozialdemokratie nichts erreichen. Sie werden aber mit diesem Gesetzesentwurf, Hundertausende von Arbeitern, die heute noch nicht zur Sozialdemokratie gehören, uns in die Arme treiben." (Bebel RT 19.6.1899, 2644)
Ablehnung, 20. November 1899 "Meine Herren, bei der Situation, die sich heute in diesem Saale entwickelt hat," zieht der SPD-Reichstagsabgeordnete Wolfgang Heine (1861-1944) Bilanz, "glauben meine politischen Freunde und ich, dass wir unsere Pflicht verletzen würden, wenn wir hier noch lange Worte machten (Sehr richtig! links)." (Vorwärts 20.11.1899) Der Reichstag lehnt am 20. November 1899 den
ohne Kommissionsberatung ab. Posadowsky sah, wie er 1919 glaubhaft versichert, längst das Scheitern des Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse voraus, obwohl er sich damals in der Debatte so festlegte:
Er behauptet, dass mit diesem Gesetzesentwurf nicht nur die Arbeitswilligen gegen den Terrorismus der Streikenden, sondern auch die Arbeiter gegen den Terrorismus der Unternehmer geschützt werden. In der Retrospektive entsteht die Frage, warum sah Posadowsky das Ergebnis eigentlich voraus? Vielleicht deshalb, weil die Reichsleitung beschlossen, um das Flottengesetz nicht zu gefährden, das Gesetz, fallen zu lassen? All sein lamentieren und schluchzen verlief im Nichts. Mehr oder weniger ein Proformauftritt. Die Zurückweisung der Zuchthausvorlage hatte vielfältige Auswirkungen:
A b e r e s w a r k e i n S i e g ! Denn im größten Land Deutschlands, in Preußen, setzt sich nach Ablehnung der Zuchthausvorlage am 20. November 1899 durch den Reichstag der politische Kampf mittels der staatlichen Rechtspflege bis in die nächsten Jahrzehnte fort. "Nachdem der Deutsche Reichstag für die Bestrafung des Organisationszwanges, des Streikpostenstehens und des Kontraktbruches im Wege des Gesetzes zum Schutz der Arbeitsfreiheit (Zuchthausvorlage) nicht zu haben war, wies der preußische Justizminister die ihm unterstellten Behörden an, die Rechtsprechung nach dieser Richtung hin zu beeinflussen, um dem Reichsgericht Gelegenheit zu geben, diesbezügliche Rechtsnormen aufzustellen. Dazu apportiert der preußische Landtag fortwährend Anträge, die eine gesetzliche Bestrafung des Streikpostenstehens, des Kontraktbruches, der Behinderung Arbeitswilliger usw. verlangen, ebenso ein gesetzliches Einschreiten gegen die Sozialdemokratie, wodurch die Gewerkschaften getroffen werden sollen. Daß diese Materien formell zum Gebiete der Reichsgesetzgebung gehören, jeder Eingriff in dieselbe also nur im Wege des Verfassungsbruches möglich ist, stört die dort wortführenden Junker sehr wenig." (Correspondenzblatt 27. Januar 1906) [c] Wolfgang Heine (739f. und 741) betont 1914, dass das Koalitionsprinzip nicht von den Arbeitern, wie Reichskanzler von Bethmann Hollweg es unlängst darstellte, bereits in gefährlicher Weise überspannt wird, sondern es noch immer prekär ausgestaltet ist. Es gab die sozialdemokratischen Versuche, etwa mit der Reichstagsresolution 1285, "den Reichskanzler zu ersuchen, dem Reichstag baldigst einen Gesetzesentwurf zugehen zu lassen, wodurch alle das Koalitionsrecht einschränkenden ausnahmegesetzliche Vorschriften in den Reichs- und Landesgesetzen aufgehoben werden sollen". Seit aber Staatssekretär Doktor Clemens von Delbrück (1856-1920) am 10. Dezember 1912 im Reichstag diese verfassungs- und naturrechtliche Grundlage des Koalitionsrechts bestritten hat, ist es notwendig sie durch ausdrücklichen Akt der Gesetzgebung zu proklamieren. [d] Posadowsky scheiterte
und vollzog nach kurzer Zeit eine Wende. Er sucht jetzt in sozialen Fragen
mit der SPD und Arbeiterbewegung ehr den Ausgleich, stellt Joachim Bahlcke
2006 fest. Tut er das wirklich? Der Kaiser, die Reichsleitung und bürgerlichen
Parteien erwarteten jetzt von ihm Kampf gegen die Sozialdemokratie,
Und wenn er ihren Erwartungen nicht entspricht, was passiert dann? Schützt ihn seine Reputation als Sozial-, Arbeitsschutz- und Handelspolitiker? Droht ihn die Relegation? Infolgedessen könnte das parlamentarische System der offenen und versteckten Kollaboration seine Stabilität verlieren, und der Reichstag stürzt in eine Krise.
Zwölftausendmark-Affäre zurück 1899 erhält das Reichsamt des Inneren vom Centralverband deutscher Industrieller (CDI) Propaganda-Geld. Begonnen hatte es mit einer Anfrage von Ministerialdirektor Erich v. Woedtke (1847-1902) aus dem Reichsamt des Inneren, an den Geschäftsführer des CDI Henry Axel Bueck (1830-1916), ob sie die Finanzierung von Agitationsschriften gegen die Sozialdemokratie unterstützen könnten. Der übermittelt das Anliegen an den Geheimen Finanzrat und stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralverbandes Jenke, der nach Prüfung empfahl, das Verlangen nicht zurückzuweisen. Am 22. Oktober 1900 veröffentlicht die Leipziger Volkszeitung die Niederschrift des Geschäftsführers des CDI vom 3. August 1898. Da war zu lesen, dass die Industriellen 12 000 Mark zur Agitation für den Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse spendeten. Alles flog auf, als ein Archivar vom Geschäftsführer Bueck heimlich die zugehörige Korrespondenz an den "Vorwärts" (Berlin) weiterleitete. Wir sagen "Archivar". Zunächst war das durchaus nicht klar. Vielmehr konnte man annehmen, Bueck selber habe den Brief dem "Vorwärts" zugeleitet, um Posadowsky zu kompromittieren. Andere Erkenntnisse legen nahe, dass Bueck in dieser Angelegenheit höchstpersönlich von Johannes von Miquel dazu veranlasst wurde. Die Freie Presse in Wien unkt am 25. Oktober 1900, dass Posadowsky "mit dem Verlust seines hohen Postens büßen" muss. Ausgelöst war diese Reaktion wahrscheinlich durch Informationen, die Gegenstand der Drucksache Nr. 21 des Deutschen Reichstages - eine Interpellation der Abgeordneten Albrecht und Genossen vom 24. November 1900 zur 7. Sitzung des Hohen Hauses, die lautete: "Welche Maßregeln gedenkt der Herr Reichskanzler gegen die Beamten des Reichsamtes des Inneren zu ergreifen, welches von einer Interessengruppe, dem Zentralverbande deutscher Industrieller, die Summe von zwölftausend Mark gefordert und erhalten hat, um damit die Agitation für den vom Bundesrath dem Reichstage am 26. Mai 1899 vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses zu betreiben."
Reichskanzler Bernhard von Bülow antwortet in derselben Sitzung: "Im vollen Einverständnis mit dem Herrn Staatssekretär des Inneren (na! na! bei den Sozialdemokraten) - jawohl Einverständnis, dessen eminente Arbeitskraft, dessen Geschäftserfahrung, dessen Kenntnisse, dessen Charakter ich trotz aller gegen ihn gerichteten Angriffe immer gleich hoch Stelle (Bravo!) bin ich der Ansicht, daß derartige Wege in Zukunft nicht wieder eingeschlagen sollen." Bülow bekundet sein Vertrauen in die Arbeitsleistung seines Staatssekretärs, rüffelt aber den eingeschlagenen Weg. Das darf sich nicht wiederholen. Ihn stört das Erscheinungsbild, den der Bettelbrief in der Öffentlichkeit hinterlässt, läuft er doch idealtypischen Vorstellungen des deutschen Beamtentums zuwider. Drei Redeminuten früher betonte der Reichskanzler: "Ich bin aber ferner der Ansicht, dass die Regierung sogar den Schein vermeiden muss irgend welche Abhängigkeiten von irgend welchen Gruppen, dass sie jeden Verdacht vermeiden, jeden Verdacht entgehen muß irgend welcher Abhängigkeit von Sonderinteressen (Sehr richtig! links.)" (Bülow RT 24.11.1900, 138) "Noch sieben Jahre arbeiteten die beiden Staatsmänner zusammen, aber nach dieser öffentlichen Rüge konnte ein Vertrauensverhältnis zwischen ihnen niemals wieder aufkommen", kommentiert 1928 der Aufsatz Von Posadowsky zu Geßler. Interessant der Nachsatz: ".... und am 22. Juni 1907 beantragte Fürst Bülow die Verabschiedung des Grafen Posadowsky in der Besorgnis, das Posadowsky nach dem Reichskanzlerposten strebt." "Über die Sache selbst mich zu äußern," reagiert am 11. Dezember 1900 Posadowsky im Reichstag,
"Aus diesem Schweigen," hält ihn daraufhin August Bebel in der Etatsberatung vor, "darf ich mir aber schließen erlauben, dass der Vorgang, d.h. die Forderung der 12 000 Mark, nicht nur im vollen Einverständnis mit ihm, sondern wahrscheinlicher weise auf seine eigene Veranlassung hin geschehen ist." Posadowsky (RT 11.12.1900, 388) eilt an das Rednerpult: "Ich glaube, wer mich in meinem Privatleben und im öffentlichen Leben kennt, der weiß, dass ich Furcht nicht kenne (Bravo! - Zurufe links), und daß ich der letzte bin, der irgendeine Verantwortlichkeit von sich ablehnt und den Kampf mit der Partei scheut, die mir heute gegenübersteht. (Lebhaftes Bravo. - Oh! Oh! bei den Sozialdemokraten.)" Er wirkt angeschlagen. Er dankt dem Vorredner, August Bebel, für die Wiederaufnahme der Debatte die partie remise, um dann anzufügen:
Am Schreiben selbst moniert am 13. Januar 1901, als alles aufgeflogen war, der Vorwärts, kann "er nichts Unkorrektes, nichts Unrichtiges" finden. "Die jetzige Erklärung des Grafen Posadowsky", heizt der Vorwärts (Berlin) am 12. Dezember 1900 die Stimmung an, "beweist die reuelose Verstocktheit der Schuldigen. Im Ressort des Grafen Posadowsky fehlt das Gefühl der Unwürdigkeit, dessen, was gethan wurde." - "Reuelose Verstocktheit?", wo er doch übersichtlich darlegte: "Der Beitrag, den der Zentralverband der Industriellen gleistet hat, der von ihm erbeten ist zur Vertretung des Gesetzesentwurfs in der Öffentlichkeit, ist verwendet worden, um Ausgaben zu decken, welche entstanden für die Verbreitung lediglich amtlichen Materials, welches bereits seit Wochen und Monate dem Reichstag vorlag ...." (Posa 11.12.1900, 431)
Am 12. Januar 1901 sorgt der SPD-Abgeordnete Fischer in der Samstagnachmittagssitzung des Deutschen Reichstags mit der Feststellung: "Das Reichsamt des Inneren ist eben nichts andres als eine Filiale des Centralverbandes" [deutscher Industrieller] für viel Aufregung." Das Kesseltreiben gegen Grafen Posadowsky, meldet das Grazer Volksblatt am 15. Januar 1901, hält an. Als die Zwölftausendmark-Affäre akut, will Posadowsky von einer Abhängigkeit vom CDI nichts wissen, weil er ahnte, dass die Öffentlichkeit dies nicht goutieren würde. Denn was geschehen, dies widerspricht nach vorherrschender Anschauungsweise den alten tradierten Vorstellungen von der Unabhängigkeit des deutschen Beamtentums. Geschickt greift am 12. Januar 1901 der SPD-Abgeordnete Richard Fischer die Zwölftausendmark-Affäre auf und agitiert:
Posadowsky antwortet:
Im Verlauf der Affäre distanziert er sich öffentlich von seinem Ministerialdirektor, der bald darauf zum Direktor des neugeschaffenen Reichsaufsichtsamtes für das Versicherungswesen demissioniert. Die SPD will die Aufklärung der Zwölftausendmark-Affäre, ohne ihn aber zu stürzen. "Es liegt uns ganz fern, den Grafen Posadowsky von seinem Platze zu bringen. Je länger er an seinem Platze bleibt, desto lieber ist es uns," bekundet der Abgeordnete Richard Fischer am 12. Januar 1901 im Reichstag, "desto mehr liegt es im Interesse unsrer Sache. (Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)" Die Zwölftausendmark-Affäre ermöglichte neue Einblicke in die Phalanx von Industrie, CDI und Staat (Reichsamt des Inneren).
Posadowsky-Statistik zurück Die gezielte und sozialökonomisch wirksame Realisierung des Ersten Hauptsatzes der Sozialpolitik erfordert eine aussagekräftige Sozialstatistik, nicht in Art Ludendorff`scher Kriegsberichterstattung, sondern als Widerspieglung von epidemiologischen Entwicklungstendenzen der Gesundheitslage, Sicherung der Ernährung und Wohnungslage. Als Posadowsky über den Bundesratsbeschluß vom 10. Juni 1898 veranlasst, eine Statistik über die Ausstände und Aussperrungen zu führen, nehmen dies die Sozialdemokraten um die Leipziger Volkszeitung mit Chefredakteur Bruno Schönlank (1859-1901) skeptisch auf. Am 9. Dezember 1898 titelt ihr Blatt auf der ersten Seite: Posadowsky-Statistik. Sie fürchten ein Déjà-vu Erlebnis mit der "Zeit der Sozialreaktion von oben" und den "Unterdrückungsvorlagen". "Büttel, Gefängnis, Polizeischikane und Massregelung drohen hinter diesen Erhebungen." "Besonders verdächtig erschien ihnen die Ermittlung und Registrierung der "Zahl der Minderjährigen", die "Kontraktbrüchigen", "polizeilichen Massnahmen" und das "staatsanwaltschaftliche Einschreiten". "Immer deutlich zeigt sich in den Bestimmungen der Pferdefuß des rücksichtslosen Arbeitertrutzes, der Scharfmacherei . " Die Daten können zur Bekämpfung der verhassten gewerkschaftlichen und proletarischen Massenbewegung herangezogen werden und negative Auswirkungen auf das Koalitionsrecht haben. "Immer deutlicher zeigt sich in den Bestimmungen der Pferdefuß des rücksichtslosen Arbeitertrutzes, der Scharfmacherei ...." "Unsere anfängliche Auffassung über die Streikstatistik des Grafen Posadowsky hat sich bestätigt." Unbenommen der kritischen
Prüfung von Zweck und Verwendung erhobener Sozialdaten, wäre
es der Sache gut bekommen, wenn man die Vorteile für die Verwaltung
und das Anliegen aus der Perspektive der fachlich qualifizierten Führung
von Prozessen durch das Staatssekretariat ebenso wahrgenommen und herausgestellt
hätte. Posadowsky strebt in seiner Behörde die Nutzung neue Erkenntnisse der Wissenschaft an, um die Wirkung der Arbeiterschutz- und Sozialgesetzgebung zu verbessern. Er fragt: "Haben wir nicht auf Anregung aus Arbeiterkreisen heraus Umfragen gehalten über die Lage der Handlungsgehilfen, über die der Bäcker und Müller, über die Milzbrandgefahr in Pinsel- und Roßhaarfabriken, über die Konfektionsbranche? Oder haben etwa die Unternehmer diese Erhebungen angeregt? Nein, die Arbeiter! Und wir haben den berechtigten Wünschen der Arbeiter bezüglich der Feststellung jener Verhältnisse Rechnung getragen." (28.1.1898) Bei den Gewerkschaften und der SPD bestand ebenso ein Bedürfnis nach einer aussagestarken Streikstatistik. Am 7. Juni 1898 führte das Reichsamt des Innern "Erhebungen zur Feststellung der Ergiebigkeit der Landwirtschaft" durch. Zusammen mit den Deutschen Landwirtschaftsrat ermittelten die Vorstände der Landwirtschaftskammern mit Landwirten, die "in natürlicher technischer und sozialer Beziehung" ein "typisches" Bild von der Landwirtschaft entwerfen können. Auf diese Weise stellte sich das erwünschte Ergebnis ein, dass die Landwirtschaft nicht rentabel arbeitet. Die Verwertung des Getreides deckte bei diesen Preisen nicht die Produktionskosten. Von hier war es nur noch ein kleiner Schritt, alle davon zu überzeugen, dass die Getreidezölle erhöht werden müssen. Dann waren die Wünsche der Agrarier erfüllt. Mit der Produktionsstatistik,
urteilen die Sozialdemokraten, hat er sich - gelinde ausgedrückt
- keine Ehre eingelegt. Und die Erhebung über die gewerbliche Kinderarbeit
waren ebenfalls ein Schlag ins Wasser. Bald wurde noch eine Enquete bekannt,
die das Gegenteil von dem beweisen, was der Kommentar dazu darlegt. Den
"Enqueten des Grafen Posadowsky" (Vorwärts 4.10.1900) traute
man nicht mehr.
Verwandlungskünstler zurück Es war nicht immer möglich, seiner politischen Rhetorik zu folgen, wenn er die Gedanken unter die taktischen Erfordernisse der politischen Kommunikation beugte. Dann war der Moment für den Auftritt des Verwandlungskünstler Posadowsky gekommen. Das war nicht oft, doch manchmal, wie am 25. Februar 1905, unvermeidlich. Als Bühne war ein Treffen von Reichstagsabgeordneten, das man heute als Pressekonferenz bezeichnen würde, hergerichtet. Mitwirkende sind die Kollegen Reichstagsabgeordneten Hans von Kanitz (1841-1913) von der Deutsch Konservativen Partei (DKP) und Ludwig von Reventlow (1864-1906) von der Deutschsozialen Partei (DSP). Unterstützt von Carl Herold (1848-1931) vom Zentrum, ereifern sie sich gemeinsam über die Unzulänglichkeit der Handelsverträge.
Am nächsten Tag berichtet darüber der "Vorwärts" aus Berlin so: "Die vierzehntägige Aufführung der handelspolitischen Komödie Im Profistreben vereint" schloß dann in den Festsälen des Wallotbräus mit einem heiteren Knalleffekt. Zunächst als ein tragisches Rührstück angelegt, gestaltete es sich mit jedem Fortschritt, immer komischer und sollte schließlich "in einem Faschingsscherz" enden. Ihn vorzutragen, gab sich der Staatssekretär vom Reichsamt des Inneren die Ehre. Er "....forderte in der Rolle eines Anti-Posa als Gegengewicht gegen das Streben der unteren Schichten nach Verbesserung ihrer Lebenslage und den dadurch bewirkten heftigen Gang der Gesetzgebungsmaschine die Stärkung des politischen Einflusses der Landwirtschaft, das heißt der junkerlichen Position, die er als "festen Anker unseres Staates" bezeichnete."
Der kluge Hans und der blöde Michel zurück Neue Wege der Steuerung der öffentlichen Meinung deuten sich 1902 mit der Affäre um den klugen Hans an. Psychologen, Ärzte, Physiologen, Zoologen, Psychiater und Veterinärmediziner zieht es in den Norden von Berlin, wo der Stall des denkenden Pferdes steht, das dem einstigen Oberlehrer Herrn Wilhelm von Osten (1838-1909) gehört, der von seinen didaktischen Fähigkeiten restlos überzeugt ist. Der kluge Hans kann Gedanken lesen, den Namen des Besuchers erraten und die Resultate seiner Operationen durch Fußtritte mitteilen. Obwohl er sie bloß gehört hatte, schrieb er sogar die Namen Bethmann Hollweg, Plüskow oder Slytzow orthographische richtig. Aus der Gaukelei um das denkende Pferd könnten allmählich fatale Konsequenzen erwachsen. Was, wenn die Gutachten aus der Psychologischen Fakultät zur Feststellung von Schwachsinn und Unterbringung in der Irrenanstalt mit derselben Akribie verfasst sind, wie die professoralen Gutachten über das denkende Pferd? Dann könnte sich die Roßkomödie zu einer unsterblichen Blamage für das psychologische Deutschland auswachsen. Ab dem 2. September 1904 wird das Tier niemanden mehr gezeigt. Die gewünschte wissenschaftliche Kommission mit auserwählten Fachgelehrten nimmt ihre Arbeit auf. Horst Gundlach arbeitete die Geschichte auf und veröffentlicht sie 2006 in der "Psychologischen Rundschau". Es stellte sich heraus, dass das berühmte Buch des deutschen Psychologen Oskar Pfungst (1874-1932) Das Pferd des Herrn von Osten, Der Kluge Hans (1907), einen bisher nicht erkannten Zweck verfolgte, nämlich zu verbergen, dass Carl Stumpf (1848-1936) lange Zeit höhere geistige Gaben des Pferdes annahm. Das Mitglied der Preußischen Akademie Wissenschaften und Philosophie-Professor war eingesetzt, um der Erscheinung auf den Grund zu gehen. Doch nicht diesem Wissenschaftsskandal, worauf eingangs bereits hingewiesen, gilt jetzt die Aufmerksamkeit.
Was sonst ist daran so Interessantes? Das denkende Pferd setzte Deutschlands Öffentlichkeit in Erstaunen und Erregung. Die einen erlagen der Suggestibilität des Phänomens, andere der Spekulation. Insgesamt war es beängstigend, wie sich eine Nation der kollektiven Halluzination und dem Okkultismus hingeben konnte. Bis dann eines Tages sein Wärter, im Zustand der Verwirrung ausplauderte, dass der fünfjährige Orlow-Traber nur das nachmache, was er ihm durch eine geheime Zeichensprache signalisiert. "Der kluge Hans", teilt im August 1904 der Stallbursche der Berliner "Morgenpost" mit, "bin eigentlich ich. Wenn ich die Augen niederschlage tu´, dann trampelt das Vieh so lange, bis ich die Augen wieder aufhebe." Trotz dieser peinlichen Indiskretion muss das Pferd den Forschern, hauptsächlich Psychologen, täglich Geistesproben seines Könnens darbieten. Gestern, am 23. August 1904 berichtet der Vorwärts (Berlin), buchstabierte Hans die Namen der anwesenden zwei Herren aus des Kaisers nächster Umgebung, Generaladjutant Graf Moltke und Flügeladjutant von Plüskow. Die Neigung zum Okkultismus und organisierter Selbsttäuschung der Massen, bei Zurückdrängung der Vernunft und Rationalität, setzt im Verlauf des Klugen-Hans-Skandals eine schlimme Vorahnung über die Möglichkeiten der politischen Steuerung des Bürgers frei: Auf dem weiteren Weg durch die Geschichte könnten uns unkalkulierbare Risiken und irrationale Kettenreaktionen erwarten, zumal Politiker bewußt oder intuitiv massenpsychologische Gesetze zur Lenkung der Bewußtseinsströme nutzen. "Es gehört ein hohes Maß von Selbständigkeit des Charakters dazu," bringt Graf von Posadowsky (RT 7.2.1906, 1088) seine Erfahrungen ein, "sich nicht den Wünschen der Massen zu fügen, sondern die Massen zu leiten." Bei der Umformung des Einzelnen in Masse schwindet nicht nur die Persönlichkeit und sein originärer moralischer Charakter. Es entsteht ein neues Gemeinschaftsgefühl, indem der Bürger die Fähigkeit zum richtigen Sehen und die Gerichtetheit der Orientierung verliert. (Vgl. Le Bon 30, 32, 36, 54)
Wir
sind auf die Dauer nicht im Stande, Der deutsche Kinematiker und Maschinenbauer Franz Reuleaux (1829-1905) war als Preisrichter auf vielen internationalen Ausstellungen ein gefragter Fachmann. Als er 1976 die deutschen Produkte zur Weltausstellung in Philadelphia als billig und schlecht einstufte, brach in der Heimat ein Proteststurm los. Nichtsdestotrotz waren viele Branchen der deutschen Industrie durch die überlegene englische Konkurrenz in ihrer Existenz bedroht. Was konnte oder mußte man dagegen von staatlicher Seite tun? Der Reichstag reagiert mit der Einführung von "Schutzzöllen" und eines "Zolltarifgesetzes" (15. Juli 1879), die er am 12. Juli 1879 mit 217 gegen 117 Stimmen beschließt. Dagegen sind, wie die Norddeutsche Allgemeine genüsslich feststellt, diejenigen, "deren staatsfeindliche Tendenzen bei jeder Gelegenheit unverhüllt zu Tage treten." (NAZ 14.7.1879), also die Fortschrittspartei, Polen, Welfen und Sozialdemokraten. Es härtet jetzt eine gesellschaftliche Stimmung aus, die später umsichgreifen sollte: Gegner des Zolls sind Staatsfeinde.
Was ist besser, Freihandel oder Protektionismus? So einfach ist das nicht, erklärt am 10. Dezember 1891 Kanzler Leo von Caprivi dem Reichstag und gibt eine kurze Einführung zur Lage des deutschen Aussenhandels: Der Import von Waren beträgt 4 000 Millionen und der Export 3 000 Millionen Mark. Das Exportdefizit von 1000 Millionen Mark setzt er auf 800 Millionen Mark fest und rechnet mit diesem Betrag weiter. Ein Teil der Importe bestehen aus dringend notwendigen und unentbehrlichen Nahrungsmitteln. (Caprivi RT 10.12.1892, 3302) Um den Bedarf der Bevölkerung an Schweineschmalz zu decken, mußte beispielsweise 1897 ein Sechstel, 1898 dann etwas mehr als einen Fünftel aus dem Ausland eingeführt werden (Posa RT 12.12.1906). Die Handelsbilanz bringt, fährt der Reichskanzler fort, bringt uns in Verlegenheit, denn es kommt zum Vorschein:
Folglich ist es sehr
zweifelhaft, ob wir auf dem eingeschlagenen Weg fortfahren können.
Aber es besteht die Chance durch "die Steigerung der deutschen Fabrikation",
"erfolgreich die Einfuhr fremder abzuhalten", was unbedingt
die Steigerung des Warenausfuhr
erfordert. Wir werden ohnehin "einen großen Teil unserer Fabrikate
ausführen" müssen, versteift diese Erkenntnis Posadowsky
am 9. Februar 1900 im Reichstag (295), "wenn wir überhaupt
unsere Industrie auf der gegenwärtigen Höhe halten wollen",
um den "erheblich steigenden einheimischen Konsums" zu gewährleisten.
Nur der wirtschaftspolitische Weg, ist jetzt ein anderer als ihn seinerzeit
Caprivi eingeschlagen hat, der durch starke Senkung der deutschen Einfuhrzölle
auf Getreide die Ausfuhr aus Belgien (1891), Serbien, Rumänien, Schweiz
(1892/93) und Rußland (1893/94) nach Deutschland erleichterte. Das
lag im Interesse der Industriekapitalisten, senkte es doch die Wertsubstanz
der Arbeitskraft und verbesserte die Konkurrenzfähigkeit der deutschen
Wirtschaft. Bei den Agrariern stieß das natürlich auf Ablehnung
und Protest. 1897 erhielten sie die Zusage, dass die Einfuhrzölle
für Agrarprodukte erhöht werden. Als 1899 der Umschwung in der
agrarischen Handelspolitik überdeutlich (Posa RT 13.12.1899), da
lästerte am 14. Dezember 1899 der Vorwärts (Berlin),
nun muss noch die chinesische Mauer gebaut werden, wo die Agrarier auf
Kosten des Volkes ungestört den Brotwucher treiben können.
Der Handelspolitiker zurück
Sofort nach dem Graf von Posadowsky im Sommer 1897 das Reichsamt des Innern übernommen, begannen die Vorbereitungen für eine umfassende Revision der Zollpolitik. Am Ende verabschiedet der Reichstag das Zolltarifgesetz vom 25. Dezember 1902 und den Zolltarif. Leicht verdattert, weil etwas überrascht, bezeugt am 3. Juli 1897 die Berliner Zeitung:
Zum Teil stammen sie vom 26. Januar 1892, weshalb sie schon etwas länger in Frage stehen. Nach seiner Einschätzung sind sie in der vorliegenden Form zur Führung der bevorstehenden handelspolitischen Verhandlungen als taktisches Instrument ungeeignet. Angeblich bemächtigt sich dem neuen Staatssekretär diese Einsicht, sagt Georg Schiele (1897, 332 ff.), erstmals im Verlauf der Beratungen zur Revision des autonomen Quebrachozolls, den Import eines überseeischen Gerbstoffs. Gelöst werden konnte das Problem nicht. Man mußte warten bis die Handelsverträge 1904 auslaufen. [Zolltarifgesetz und Zolltarif zurück] Das Börsengesetz trat am 1. Januar 1897 in Kraft. Die Agrarier griffen weiter die Handelsverträge an. Eugen Richter prophezeit ihnen am 30. November 1896 im Reichstag, dass sie sich selbst schaden. In bürgerlichen Presse rief die Nachgiebigkeit der Regierung Empörung hervor. Bereits die ersten Schritte und Initiativen, die der neue Staatssekretär zur Reform des Zolltarifgesetzes und Zolltarifs unternimmt, verfolgt die politische Öffentlichkeit aufmerksam. "Auf allen Seiten des Reichstages hatte man die Empfindung," lässt sich darüber am 3. Juli 1897 die Berliner Zeitung aus,
Ein Teil der Presse erkennt im Vorgehen von Posadowsky ein "verheißungsvolles Eingehen auf die einseitigen agrarischen Forderungen der Konservativen". Hiergegen legen "Die Grenzboten" aus Leipzig Widerspruch ein:
"Es zeugt von dem großen Mangel an politischer Reife und an staatsmännischen Sinn in unsern Parteien," bewertet Georg Schiele (DG 1897, 332) im Aufsatz Zoll- und handelspolitischen Aussichten den Streit, "der Rechten und wie der Linken, dass es bei uns möglich war, die Tarife wie die Verträge vom ersten Augenblick an aufs erbittertste zu bekämpfen, daß man die Handelsverträge zu stürzen suchte ....".
Die Parteien sollten sich nun endlich beruhigen und gemeinsam mit dem Reichsschatzamt eine brauchbare Grundlage für einen verbesserten und den wirtschaftlichen Verhältnissen angepassten Zolltarif schaffen. Man darf, warnt Georg Schiele, den Staatssekretär nicht derart vergewaltigen. Denn dadurch könnte in leichtsinniger- und zugleich unnützer Weise das internationale Vertrauen in die Vertragstreue der deutschen Staatsregierung erschüttert werden. Posadowsky sprach sich in der kritisierten Stellungnahme für autonome Handelstarife aus, die nach einer gründlichen Durchsicht, Ergänzungen und Verbesserungen erfahren sollen. Der Streit um die Zollpolitik ist damit nicht beendet oder ausgestanden. Eugen Richter (1838-1906) wendet gegen sie ein: "Wenn aber die hochschutzzöllnerischen Ansichten des Herrn Staatssekretärs Graf von Posadowsky richtig wären, wenn er darin von den wirtschafthlichen Ausschuss unterstützt würde, der in seiner Mehrheit ebenso hochschutzzöllnerisch ist, dann, fürchte ich, wird unser auswärtiger und überseeischer Handel dadurch um ein Vielfaches mehr geschädigt werden, als ihm durch eine Flotte genützt werden kann (sehr richtig! links), und sei sie noch größer, als sie jetzt herzustellen beabsichtigt wird." (Richter RT 7.12.1897, 70) [Handelstag 1901 zurück] Seine Reputation in Handelskreisen festigte Posadowsky mit der Rede vom 14. Dezember 1899 im Reichstag:
"Anknüpfend an seine Erklärung vom 14. März 1898 spricht der Deutsche Handelstag [1901] die Überzeugung aus, dass zur Erhaltung und Förderung des Volkswohlstandes, der wirtschaftlichen wie politischen Machtstellung des Deutschen Reiches, insbesondere auch zur lohnenden Beschäftigung seiner stark wachsenden Bevölkerung, die Fürsorge für die Ausfuhr deutscher Erzeugnisse durch Beibehaltung und weitere Anwendung der bisherigen Politik der langfristigen Handelsverträge bethätigt werden muß. Als wesentlicher Inhalt der Handelsverträge ist die Herabsetzung und Bildung der Zollsätze und Gewährung der Meistbegünstigung zu betrachten." "Die Einführung der sogenannten Doppeltarife, Maximal- und Minimaltarif, ist als schwere Gefährdung des Abschlusses günstiger Handelsverträge entschieden abzulehnen."
Zum Pessimismus besteht kein Grund, glänzt der Staatssekretär des Reichsamtes des Innern in seiner Eröffnungsrede am 8. Januar 1901 auf dem Deutschen Handelstag die Probleme weg. Der technische Fortschritt verbürgt die bessere Naturbeherrschung und die Internationalisierung (Globalisierung) der Arbeitsteilung als Produktivkraft senkt den Aufwand je Produktionseinheit. Als Mittel zur Expansion des Außenhandels nennt Posadowsky auf dem Handelstag nicht Schutzgebiete, Kartelle oder Flottenrüstung, sondern vertraut auf die "Hilfe des deutschen Erfindergeistes". Zuhause erfordert dies den wirtschaftlichen Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit. Die Botschaft des Staatssekretärs wird gut angenommen. Allerdings erwartet der Handelstag, dass er vom Reichstag rechtzeitig in die Beratung zum Entwurf der Zolltarife einbezogen wird. Gegen die hohen Lebensmittelzölle erhebt er Einspruch, weil dies die Kaufkraft der Konsumenten für industrielle Erzeugnisse schwächt. Minderbemittelte Bevölkerungskreise bedrohen die erhöhten Preise in ihrer wirtschaftlichen Existenz. In der Sache, eine schwere Kritik. Die Presse rätselte, ob es Posadowsky deshalb vorzog, die Tagung kurz nach dem Ende seines Referats zu verlassen. [Abschluß der Verhandlungen zurück] Anfang des Jahres 1901, beobachtete der "Vorwärts" (Berlin), da brach die Zollwut aus, als Posadowsky und Genossen sich schlechterdings nicht dabei beruhigen konnten, dass irgendein Produkt ohne erhöhten Zollschutz blieb. "So haben sie die Zölle da gesteigert, wo sie ausdrücklich erklären mussten, dass aus den Kreisen der Interessenten keine Anträge gekommen sein." An die Stelle eines Generaltarifs sollen ein Minimal- und Maximaltarif treten. Zur Vorbereitung stellte das Reichsamt des Inneren detaillierte Produktionsstatistiken auf, die sich als "außerordentlich nützlich erwiesen", blickt im Juni 1899 Posadowsky darauf mit Stolz zurück. Aber der neue Zolltarif selbst, der wird im Reichsschatzamt festgelegt. [Osterfahrt zurück] Im Winter 1902 auf 03, erzählt 1914 Karl Kautsky, ereigneten sich im Reichstag beim Kampf um den Zolltarif die "schärfsten Kriegsszenen". Indes kam das Interesse des Zentrums mit der Regierung schon überein. Beide wollten die Landwirtschaft schützen. Allerdings war darauf zu achten, dass speziell die Wünsche und Ansprüche der ostdeutschen Agrarier nicht überbordeten. Sie mussten neu austariert und bisweilen zurückgeschnitten werden. Dazu nimmt der Staatssekretär des Innern eine klare politische Position ein, die er am 14. Dezember 1899 im Reichstag in Richtung des mit der Freisinnigen Vereinigung kooperierenden Abgeordneten Richard Roesicke (1845-1903) darlegt: "Ich habe ein aufrichtiges und warmes Interesse für die Landwirtschaft, wünsche aber dringend, dass die Vertreter der Landwirthschaft bei ihren Handlungen sich einer Form bedienen, die weniger geeignet ist, die Gegnerschaft anderer Erwerbsgruppen hervorzurufen." "In Dresden, München, Stuttgart und Karlsruhe hatte man die Unersättlichkeit der ostelbischen Junker satt", schildert Franz Mehring die Stimmung. Posadowsky will ihnen nicht mehr gewähren, als der Zolltarif ohnehin schon bietet. In dieser delikaten Mission brach er Ostern 1902 zu einer Rund-Reise an die deutschen Höfe auf. Eine schwierige Aufgabe, denn einerseits registrierte man, hatten Bülow und Posadowsky ein Herz für die "nothleidende Landwirtschaft", andererseits aber eine Heidenangst vor den rabiaten Landsknechten aus den Osten. Herauskam ein Jupheidi-Jupheida-Kurs (Mehring). Dabei wußte sich Posadowsky durchaus mit Bülow einig, "wenn die militanten Agrarier mit ihren uferlosen Forderungen im Reichstag durchdrangen, dann würde dies bei den Arbeitern sowieso beim Groß des Bürgertums große Erbitterung auslösen." (Fesser 1991, 70) [Bauernfasching zurück] Die Gesamtabstimmung über das Zolltarifgesetz erfolgt in der Nacht vom 13. zum 14. Dezember 1902. Wer jedoch Lust verspürte, konnte bereits zwei Tage vorher in Gesellschaft mit dem Minimal- und Maximaltarif virtuell beim "Wahren Jacob" abtanzen. Aus Anlass der Verhandlungen zum Zolltarifgesetz und Zolltarif spielt hier Graf Posadowsky mit Band zum Bauernfasching auf.
Laut Beschluß vom Januar 1901 sieht der Deutsche Handelstag in der Einführung des Doppeltarifs, eine "schwere Gefährdung des Abschlusses günstiger Handelsverträge", und deshalb abzulehnen ist. Dabei sollte es nicht bleiben. Am 3. Januar 1901 meldet die Presse den Kurswechsel: Der Wirtschaftsausschuß des Centralverbandes deutscher Industrieller (CDI) stimmt jetzt für den Doppeltarif. Graf von Posadowsky und Johannes von Miquel befürworten den Doppeltarif. Schatzsekretar Max von Thielmann (1846-1929) bevorzugt den Einheitstarif, weil seiner Ansicht nach das Handelssystem durch den Doppeltarif gefährdet wird und sucht deshalb Unterstützung bei Reichskanzler Bülow. (Mitteilung 16. März 1901) Aus dieser Zollpolitik, prophezeit die Opposition im Reichstag wiederholt, ernste Folgen für das gesamte deutsche Wirtschaftsleben. Deshalb ist jetzt nicht zu erwarten, dass sie sich in die freudige Stimmung beim virtuellen Bauernfasching einklinkt. Speziell den Agrariern kam das System der Minimal- und Maximaltarife entgegen. Hier ist es angezeigt einzuflechten, dass mit dem Minimaltarif verhindert werden soll, dass zugunsten der Förderung des Exports austarierte Tarife, nicht zu Lasten der Landwirtschaft, dem Ackerbau, gehen. Wilhelm von Kardorff (1828-1907) von der Deutschen Reichspartei (DRP) legte am 27. November 1902 dem Reichstag einen Kompromissantrag vor. Der Konventionaltarif fiel weg und die Unterhändler können bei ihrem Angebot allenfalls bis zum Minimaltarif herabgehen. Bei Anwendung des Minimaltarifs durften die Agrarier hoffen, hohe Getreidezölle abzuschöpfen. Das hört sich, wie man sagt, zunächst gut an, weil beim Abschluss jene Händler den Kürzeren ziehen, die nur über einen General- beziehungsweise Konventionaltarif verfügen. Andererseits kann Deutschland mit dem Minimaltarif diese Preise unterschreiten. Und es fällt nicht besonders auf, dass der Minimaltarif eine Waffe des Schutzzolls ist. Begonnen hatten die "wirtschaftlichen Vorgefechte" am 11. Januar 1892 damit, daß Frankreich dieses Doppelsystem einführte, worauf ein Jahr später Spanien und andere folgten. Doch es wurde berichtet, dass keines dieser Länder den Minimaltarif wirklich durchführen konnte und sich selbst schadete, weshalb sich die Regierung Frankreichs genötigt sah, dieses System teilweise oder gänzlich außer Kraft zu setzen. Vom sozialistischen Standpunkt lehnte man es in Deutschland sowieso ab und die Regierung setzte sich ihrerseits dem Verdacht aus, dass ihre Fürsorge, die sie anlässlich der Flottenvorlagen für den Handel zeigte, nur imperialistische Nebelpolitik war. (Vgl. Wirtschaftliche Vorgefechte 22.4.1900)
Befürworter
und Gegner der Zollgesetzgebung trugen mit einer bisher nur selten erlebten
Härte ihre politischen Kämpfe aus. Umstritten war nicht der
Einheits- oder Doppeltarif. Grundlegende Fragen der wirtschafts-
und Staatsentwicklung stehen zur Disposition, zum Beispiel: Soll die Exportwirtschaft
über alle Maßen begünstigt werden? Oder muss die binnenwirtschaftliche
Entwicklung im gleichen Takt gefördert werden? Ist der Schutzzoll
ein Notbehelf oder eine Dauereinrichtung? Das System dient nicht schlechthin
protektionistischen Zwecken, also der Zurückdrängung der internationalen
Konkurrenz, sondern, indem es den Kartellierungs- und Syndizierungsprozess
in der (Groß-) Wirtschaft fördert, übernimmt es mehr
und mehr fiskalische Im Ergebnis eines komplizierten und langwierigen Gesetzgebungsverfahrens beschließt der Reichstag in der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember 1902 das Zolltarifgesetz und den Zolltarif. Von den 304 Abgeordneten stimmten 263 mit Ja, 35 mit Nein und 69 enthielten sich. "Es wird in der Nacht vom nächsten Sonntag auf den Montag ein Jahr, dass die Zolltarifvorlage mit großer Mehrheit nach 18-stündiger Sitzung vom Reichstag angenommen wurde," gedenkt diesem Tag August Bebel (RT 10.12.1903, 44). "Wie war damals der Jubel groß. (Heiterkeit links.) Es war, so schien es, eine welterschütternde Tat geschehen, als man endlich mit allen Mitteln der Gewalt und des Geschäftsordnungsbruchs die Minorität unter die Füße bekommen und den Zolltarif eingeheimst hatte. Da stürzten die Herren der Majorität hinauf auf die Tribüne zum Herrn Reichskanzler und Grafen von Posadowsky, und das Händeschütteln und das Gratulieren wollte gar kein Ende nehmen." [Der Segen für die Landarbeiter zurück] Nach Abschluß der Verhandlungen im Reichstag, reibt die Opposition sich am Schuldigen,
Geduldig und mit Ausdauer erklärt er immer wieder im Anschluss an die erste Beratung des Zolltarifgesetzes am 12. Dezember 1901 im Reichstag die Notwendigkeit und den Erfolg dieser Strategie: 1879 sind die Bismarck`schen Schutzzölle eingeführt worden. Seitdem ist der Verbrauch von Baumwollgarn um mehr als Doppelte gestiegen. Im noch viel höherem Maße profitierte die Eisenindustrie von dieser Politik. In Zeiten industrieller Krisen kam es darauf an, die Überschwemmung des deutschen Marktes mit Roheisen zu verhindern. 1879 stösst England das dreifache der deutschen Produktion aus, die jetzt, 1901, fast die Höhe der englischen erreicht hat. Es ist nicht unbedingt tröstlich, was hier der Vater des Zolltarifs als Vorzug der Schutzzollpolitik anpreist. Denn es bleibt dabei, dass die Arbeiter und Konsumenten die um die Zollsätze erhöhten Preise der Lebensmittel aus ihren Einkommen bezahlen müssen. Die Zölle steigern die Grundrente, die im Wesentlichen wieder, entweder durch Aufnahme einer Hypothek oder durch Verkauf des Guts zu einem höheren Preis, kapitalisiert wird. Während die Besitzer sich an der Kapitalrente laben, mussten die Landarbeiter, die jetzt, statt höhere Löhne zu bekommen, die Last der Verzinsung des Kapitals tragen. Das war "der Segen des Zolltarifs für die Landarbeiter", zieht am 20. Januar 1914 der SPD-Reichstagsabgeordnete Hermann Krätzig (1871-1954) das Fazit. Die staatliche Pro-Zoll-Argumentation erfasst nicht die sozial differenzierte Wirkung auf die Klassen und Schichten und ihren Einfluß auf die Arbeits- und Lebensbedingungen. Posadowsky huscht in seinen Darlegungen über die Interessen der Großindustrie hinweg. Dagegen spricht August Bebel (RT 20.01.1900, 3631) es deutlich aus: "Erst unter der Schutzzollpolitik, die Fürst Bismarck durchführte, ist die kapitalistische Produktion treibhausmäßig in Deutschland gepflegt und gewachsen ...." Jetzt ist es so, dass die Industrie darauf drängt, die alten Zollsätze zu senken, um die Einfuhr von Getreide zu erleichtern und die Gewerbeexporte in die Partnerländer zu forcieren. Bis 1882 lebten in Deutschland vom Industrie und Gewerbe etwa 16 Millionen Menschen, im Jahr 1895 sind es 20 Millionen. Im gleichen Zeitraum wuchs die Zahl der Personen die im Handel und Verkehr für ihren Lebensunterhalt tätig von 4 1/2 auf 6 Millionen an. Während sie in der Landwirtschaft von 19 1/4 Millionen Köpfe um eine 3/4 Millionen sank. (Bebel LVZ 22.01.1900; RT 20.01.1900, 3631) [Proteste zurück] Just in diesem Moment prallt die Deutschland-Lokomotive auf die Proteste zur Getreidezollpolitik. Das kam nicht unerwartet, rügte doch August Bebel am 11. Dezember 1902 im Reichstag, dass an die arbeitende Klasse bei der Zollgesetzgebung nicht gedacht worden war. Aber den "Päppelkindern", also den Junkern und Agrariern, wurde wohlgetan. Die Folge war ein "Transfusion" in der Einkommensverteilung von unten nach oben.
Die Malaise veranschaulicht am 19. Dezember 1902 massenwirksam die SPD-Erklärung
Für sie bedeutet diese Politik "eine der schwersten Schädigungen für die Lebenshaltung und die wirtschaftliche Entwicklung der ungeheuren Mehrheit des deutschen Volkes, insbesondere der arbeitenden Klassen". Dafür trägt sie einige Gründe vor. Infolge der Zollgesetzgebung müssen die Lohnabhängigen immer höhere Lebensmittelpreise tragen. Nicht nur sie, natürlich! Aber ihr Arbeitslohn richtet sich im Unterschied zu anderen Einkommen, nicht direkt an den Lebensmittelpreisen aus, sondern bildet lediglich die Nachfrage von Arbeitskräften ab. Den Arbeiter und Arbeiterinnen blieb nur, lästerten damals die Sozialdemokraten, das teuerste Brot der Welt zu essen. Fleisch, noch immer für die meisten Familien ein Luxusgut, verteuerte sich. Es kam nicht so extrem wie erwartet. Unter Nutzung der Daten von 118 000 Mitgliedern der Ortskrankenkasse Dresden analysiert 1911 Karl Kautsky die Lohn-Preis-Spirale. 1899 beträgt der Durchschnittslohn für alle männlichen Versicherten 3,10 Mark. Zehn Jahre später 3,67 Mark, was einer Steigerung von 18,7 Prozent entspricht. Von 1899 bis 1909 erhöhte sich der Preis für Fleisch um 16,2 Prozent, für Magermilch um 16,6, Margarine um 20, Fische um 19,7 und Weizenmehl, Grieß um 28,1, für Brot um 15 bis 18 und Steinkohle um 13,8 Prozent. Während die Löhne in England im selben Zeitraum um 6,1 Prozent anstiegen, wuchsen sie in Deutschland um 18 Prozent, allerdings bei gleichzeitiger Erhöhung der Lebensmittelpreise um 11 Prozent. Für alle weiblichen Versicherten erhöhten sich im Zeitraum von 1899 bis 1909 die Löhne um 16 Prozent, also von 1,81 auf 2,11 Mark. Ihre Zahl vergrößerte sich in diesem Zeitraum um 16.949 Personen. Das, kommentiert Karl Kautsky (1911), ".... deutet bereits auf einen bedenklichen Rückgang des Wohlbefindens der Arbeiterklasse hin. Es ist ein Symptom dieses Rückgangs, denn der Arbeiter, dessen Lohn ausreicht, schickt nicht Weib und Kind in die Fabrik". "Die Kinder bleiben mehr sich selber überlassen, die Kleider können nicht mehr so im Stande gehalten werden." Bei der Bewertung der Lohnentwicklung ist zu berücksichtigen, dass Sachsen zusammen mit dem Ruhrgebiet das führende Industrieland Deutschlands war und ein im Vergleich zu den übrigen Ländern hohen Anteil tarifierter Lohnempfänger aufweist. Zwischen Stadt und Land bestehen im durchschnittlichen Arbeitseinkommen große Unterschiede fort. 1893 beträgt das Durchschnittseinkommen einer ländlichen Arbeiterfamilie im Osten Deutschlands - laut dem Reichstagsabgeordneten von Königsberg-Stadt Carl Schultze (1858-1897) - nach Abzug der Kosten für die Scharwerke, jämmerliche 288 Mark pro Jahr. "Die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Landarbeiter sind meist ebenso skandalös wie ihre Rechtsverhältnisse. Furchtbar lang ist die Arbeitszeit, und sehr karg ist der Lohn", berichtet der SPD-Abgeordnete Hermann Krätzig (1871-1954) am 20. Januar 1914 dem Reichstag:
Ich stehe zwischen zwei Welten zurück Den vor zehn Jahren gegen den Widerstand der Junker erfolgten Abbau der Getreidezölle, rollte Posadowsky 1902 praktisch wieder zurück, was die Lebensmittelpreise verteuerte und Proteste im Volk aufbranden ließ. Im Fall des Zolltarifs sind die Maßregeln so tief- und durchgreifend, stellt am 19. Dezember 1902 die SPD in "An das arbeitende Volk Deutschlands!" erzürnt fest, daß sie ohne direkte Stellungnahme des Volkes nicht hätten beschlossen werden dürfen. Neuwahlen wären das richtige Mittel der Wahl gewesen. "Aber aus Furcht vor dem drohenden Volksurteil sind die Regierungen und die Reichstagsmehrheit dieser selbstverständlichen Forderung ausgewichen."
Posadowsky wird nicht Müde, immer wieder die Notwendigkeit und den Erfolg der Zollpolitik zu verteidigen. Die Industrie- und Agrarzölle dienen dazu, erklärt er der Öffentlichkeit, "dem deutschen Arbeiter vermehrte Arbeitsgelegenheit zu geben", unterschlägt aber die Teuerungsraten und sinkenden Reallöhne verschiedener Beschäftigungsgruppen und verschleiert damit den
Kann man im Zustand der Schizophrenie leben, lautet die psychologische Grundfrage der Zeit, und dabei seinen täglichen Geschäften nachkommen? Durchaus, wenn man die moralische Selbstfindung und politische Innenschau nach dem Muster wählt, wie es Tonio Kröger von Thomas Mann (1903) gegen Ende des Briefes an Lisaweta Iwanowna tut:
Gewerkschaftssekretär Martin Segitz (1853-1927), einst Redakteur der Fränkischen Tagespost, wartet am 12. April 1913 mit einem Therapievorschlag auf: "Der Domherr von Naumburg möge einmal mit dem früheren Staatssekretär Grafen v. Posadowsky eine gründliche Gewissensforschung vornehmen, er wird dann zu dem Bekenntnis des reumütigen Sünders kommen, mea culpa, mea maxima culpa." Kann der Einzelne die logischen Widersprüche und Paradoxien des politischen Alltags eliminieren oder wenigstens reduzieren? Pfarrer Gottfried Traub (1869-1956 [siehe 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10]) ist es 1931 auf dem Parteitag der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) in Stettin gegeben, folgendes Angebot auszupreisen:
Diesen Weg wählt Posadowsky nicht. Als Christ in politischer Verantwortung versteht er sich als Bote des sozialpolitischen Fortschritts. Und davon, verspricht er im Dezember 1899 vor dem Reichstag, lassen wir uns "durch keine Agitation der Sozialdemokratie" abhalten. (Posa RT 13.12.1899, 3350) Wir wollen "auf dem Gebiete des sozialen Fortschritts langsam, besonnen, aber sicher und mit warmen Herzen" voranschreiten.
Quellennachweis
zu Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932) an den Kipp- und Verzweigungspunkten
der Geschichte - siehe https://www.naumburg-geschichte.de/geschichte/posadowsky4.htm.
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Fortsetzung zweiter Teil
Inhaltsverzeichnis erster Teil
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Autor: Detlef Belau | Urfassung:
2005. Überarbeitet am 24. März 2021. |
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