Der Wandervogel
eröffnet am 12. April 1919 Karl Bittel in Jena zur Führertagung der Jungdeutschen den Teilnehmern. Nicht nur ihn, viele in seinem Alter zog sie an. Als Geburtshelfer betätigte sich am 4. November 1901 Karl Fischer (1881-1941) im Ratshauskeller von Berlin-Steglitz und gründete den Ausschuss für Schülerfahrten Wandervogel e. V.. "An vielen Lehranstalten", empört sich Hans Fallada (1893-1947), "wurde es den Schülern verboten, ein Wandervogel zu sein. Aber das half gar nichts." "Der Wandervogel breitete sich trotzdem aus, und die Verbote mussten wieder aufgehoben werden, zumal sich ihm nie etwas Schlimmes nachweisen ließ." "Nach bewährten Muster ist nunmehr auch die Freie Jugendorganisation in Naumburg a. S. aufgelöst worden", berichtet am 8. Januar 1911 der Vorwärts (Berlin). "Um die "auf Abwege" geratenen jungen Leute für immer von ihrem staatsgefährlichen Treiben abzubringen, erschienen kurz nach der Auflösung die Pfarrer der städtischen Kirchen in den Wohnungen der Mitglieder. Ueber große Erfolge bei dieser eigenartigen Propaganda sollen aber die Vertreter der Kirche nicht zu jubeln haben." Über Neugründungen und organisatorisch-strukturelle Verästelungen gewinnt die Wandervogel-Bewegung Kraft und zahlreiche Anhänger. Noch im selben Jahr entstanden der Wandervogel, Eingetragener Verein zu Steglitz bei Berlin, kurz WV EV genannt, und um Karl Fischer herum der zweite große Zweig der Wandervogelbewegung, der Verein Alt-Wandervogel (AWV). Speziell über die Frage der Alkoholabstinenz und des Mädchen-Wanderns kam es in der Bewegung zum Streit. Am 20. Januar 1907 gründete sich in Jena unter Führung von Ferdinand Vetter der Wandervogel, deutscher Bund für Jugendwandern, aus. 1914 umfasste der Wandervogel-Bund etwa 20 000 Jugendliche und 10 000 Erwachsene. (Vgl. Schreiber 2014, 54-63) Über die Hälfte der Ortsgruppen leiten Oberlehrer und Lehrer. Sie drängten auf Veranlassung vorgesetzter Behörden zur Führung der Gruppen in den Wandervogel. Manchmal waren es, bemerkt Hans Fallada, auch Studenten. Der Unwillen darüber war in den Gruppen zu spüren. Beim Treffen auf dem Hohen Meissner 1913 protestiert dagegen, womit er nicht der Erste war, Willie Jahn (1889-1973) mit dem Satz:
Aus Unzufriedenheit und Empörung über die Alten bildete sich 1910 der Jung-Wandervogel (JWV). Er will ausserhalb der Schule die Freiheit und Selbstbestimmung seiner Mitglieder herstellen und distanziert sich von Soldatenspielereien, wie sie etwa beim Jungdeutschland-Bund (BJD) üblich sind. Der JWV erstrebt keine auserwählte Kultur, weil das, wie er meint, die Bewegung versteift und die Jungen daran hindert nachzuwachsen. Am weitesten treibt die Kritik am Wandervogel vielleicht die Ortsgruppe Jena. "Wir wissen," antwortet sie am 2. August 1919 abschliessend auf einen Briefwechsel mit vielen gleichgesinnten Gruppen in ganz Deutschland, "daß sich im ganzen Wandervogel zwei verschiedene Welten gegenüberstehen! Hier die Bundesleitung der Alten, der Oberlehrer und zahlreicher Anhang: die Reformfröhlichen, die sich für `Pflanzenkost`, `Antirauschgiftbewegung` oder Leibchenreform und Ertüchtigung der Wanderwaden einsetzen, die `volkskundigen`, volkstanzenden, jodelnden und ewig zur Blödheit verdammten Kilometerfresser, als die Wandervereinler mit bandgeschmückter Lautenbegleitung; hier die wirklichen Wandervögel, Nachkommen der revolutionären Steglitzer, die - aufbegehrend gegen den bürgerlichen Unfug verrotteter Schulen, verspießerter Elternhäuser, verlogener Tanzkränzchen-Erotik und eingepaukter Kirchenfrömmigkeit - die mechanischen Formen hassen und neue Formen, kultureller Formen, Formen des Lebens, der Natur und Kunst in den Mittelpunkt ihres Fühlens und Denkens stellen. Dies ist das Bild zwei grundlegend verschiedener Welten, ist das Bild des bestehenden Wandervogels Die Wahrheit über diese zwei Welten bricht sich Bahn!" (JW 1919) Paul Natorp (1920, 17f.) äusserte nach dem Jugendtreffen auf dem Meissner seine Bestürzung darüber, dass der Wortführer des österreichischen Wandervogels Professor Ernst Keil den "grundsätzlichen Ausschluss der Juden fast als selbstverständliche Sache" ansieht. Im Vortrag vor der Comenius-Gesellschaft im Künstlerhaus von Berlin am 6. Dezember 1913 deutet er persönliche Konsequenzen an:
Die Sorgen erfüllten sich. Ostern 1914 zum Bundestag in Frankfurt an der Oder nahm der Wandervogel eine Entschliessung zur Judenfrage an, wonach die Ortsgruppen durch Mehrheitsbeschluss von Fall zu Fall den jüdischen Anwärter ablehnen können. Es war jener Tropfen, der nun in die Gemüter der Mitglieder eindringt und sie in deutsch-christliche und deutsch-jüdische scheidet. In Verein mit dem Nachkriegs-Begriff des Deutschtums exponierter Wandervogelführer nimmt die Organisation allmählich einen neuen Charakter an.
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Auor: Detlef Belau |
Aktualisiert: 14. November 2010 |